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Meinung: Zu viel Europa

Kopftücher bleiben verboten: Das Straßburger Urteil bringt den türkischen Premier in Not

Das Kopftuchurteil des Straßburger Menschenrechtsgerichts hat die Rechtslage in der Türkei bestätigt. Aber die Regierung hat sich darüber gar nicht gefreut. Seit seinem Wahlsieg Ende 2002 steht der gemäßigt islamische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bei seinen frommen Anhängern im Wort, etwas gegen das strikte Kopftuchverbot an staatlichen Institutionen der Türkei zu tun. Der Widerstand des Staatspräsidenten, der Armee und anderer strikt laizistischer Kräfte hat das bisher verhindert.

Erdogan mag auf die Hilfe europäischer Institutionen wie EU und Europarat gehofft haben. Denn die Wahrung individueller Grundrechte gehört zu deren wichtigsten Prinzipien. Doch nun entschied das Straßburger Gericht, das Kopftuchverbot an türkischen Universitäten verstoße nicht gegen die Religions- oder Meinungsfreiheit.

Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer, die Armee, die Justiz und die Säkularisten in der Hochschulverwaltung sehen im Kopftuch ein Kampfmittel radikaler Islamisten. Sie und ihre Anhänger halten das Problem nach dem Straßburger Richterspruch für gelöst. Erdogans Regierung ist jedoch nach wie vor für eine Liberalisierung des Kopftuchverbots. Viel dafür tun kann sie derzeit aber nicht.

Erdogan steht im Kopftuchstreit stärker unter Druck als die meisten seiner Vorgänger im Ministerpräsidentenamt, und er bekommt diesen Druck auch ganz persönlich zu spüren. Erst letzte Woche beim Nato-Gipfel in Istanbul musste der Premier ohne seine Frau zum Staatsbankett erscheinen, weil seine Gattin Emine das Kopftuch trägt und deshalb an Staatsempfängen nicht teilnehmen darf; Erdogans Töchter studieren in den USA, weil sie mit Kopftuch nicht an die türkischen Universitäten dürfen. Zu den türkischen Klägerinnen in Straßburg gehörte bis vor kurzem auch Hayrünnisa Gül. Die Frau des türkischen Außenministers und Vizepremiers Abdullah Gül war wegen ihres Kopftuchs von der Universität abgewiesen worden. Frau Gül zog ihre Klage schließlich zurück, weil sie ihren Mann damit in eine peinliche Situation gebracht hätte.

Für Erdogan und Gül geht es aber nicht nur um persönliche Unannehmlichkeiten. Zwei Drittel aller türkischen Frauen tragen das Kopftuch, die allermeisten, ohne damit eine politische oder gar staatsfeindliche Aussage zu verbinden. Die Forderung von Erdogan und seiner AK-Partei nach einer Lockerung des Kopftuchverbots entspringt nicht finsteren islamistischen Plänen, sondern dem Bemühen, die eigene Anhängerschaft zu bedienen. Nicht nur die AK-Partei, sondern auch die bürgerliche Oppositionspartei DYP fordert die Öffnung der Universitäten für Kopftuch tragende Studentinnen: ein Zeichen für die wahlpolitischen Realitäten im Land.

Nach dem Straßburger Urteil wird Erdogan zumindest kurzfristig nach anderen Themen als dem Kopftuchverbot in Staatsgebäuden suchen müssen, um den islamischen Teil seiner Anhänger bei der Stange zu halten. Ist das der Grund, warum Erdogan Israel in jüngster Zeit auffällig scharf kritisiert?

Erdogan ist nicht auf eine schnelle Lösung der KopftuchFrage angewiesen. Die AK-Partei kam im November 2002 nicht als religiöse Partei an die Macht, sondern als Partei der kleinen Leute, die Schluss machen wollte mit den Machtspielen der korrupten und unfähigen etablierten Parteien in Ankara. Da liegt Erdogans Chance. Wenn er den Türken eine ehrlichere Politik, mehr Freiheit und vor allem mehr Wohlstand bringen kann, wird er einen Fortbestand des Kopftuchverbots verkraften können. Und für diese Ziele ist Europa nach wie vor der beste Helfer, den Erdogan finden kann.

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