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Meinung: Zu viele Kevins

Bremen ist kein Einzelfall: In der Praxis zählt dasWohl der Eltern mehr als das der Kinder

Wenn ein Kind wie Jessica in Hamburg stirbt, weil seine Eltern es einsperren und zu Tode quälen, dann löst das ein überwältigendes Gefühl der Hilflosigkeit aus. Denn das Verhalten solcher Eltern sprengt unsere Vorstellungskraft. Sie sind Extremfälle.

Kevin hingegen lebte und starb unter staatlicher Vormundschaft. Die beklemmende Frage, die jeder gewaltsame Kindertod auslöst, ist anders als bei Jessica eindeutig beantwortet: Ja, er könnte noch leben, wenn die beteiligten Behörden die Vorschriften beachtet hätten. Das sagt der vorläufige Bremer Bericht. Ein Untersuchungssausschuss wird Kevins kurzes Leben weiter durchleuchten. Er wird ein Dokument der Fehlentscheidungen vorlegen. Die Öffentlichkeit wird sie als erschreckend, ungeheuerlich, unfassbar verurteilen.

Doch an Kevins Leben und Tod müssen wir begreifen, dass wir nicht vor einem Extremfall stehen. Um Kevin hat eine staatliche Instanz mit aller Kraft gekämpft, der Leiter des Kinderheims, in dem er mehrfach Notaufnahme gefunden hatte. Der Mann, der die Kinderleiche irgendwann in seinen Kühlschrank gelegt hat, ist drogenabhängig. Ein Normalfall – in Städten wie Bremen wachsen zahllose Kinder im Schatten von Sucht, Gewalt und Isolation auf.

Die Vorschriften, die der Bremer Bericht verletzt sieht, sind offensichtlich erst nachträglich eindeutig. Weil zwischen Elternrecht und staatlichem Eingriff grundsätzlich keine konfliktfreie Entscheidung möglich ist, gibt es neben den Vorschriften immer auch so etwas wie die übliche Praxis. Sie prägt die Haltung von Ämtern und Sozialarbeitern, die darin den Halt suchen, den eine desinteressierte Gesellschaft ihnen seit Jahren immer mehr versagt.

In Bremen ist es üblich, die Kinder drogenkranker Eltern in ihren Familien zu lassen, im Interesse des Rehabilitationserfolgs. Diese Haltung hat Kevins Schicksal besiegelt. Denn im Zentrum stand nicht seine Gesundheit, sein Leben, sondern das eines Erwachsenen. Dass der weder rechtlich noch biologisch sein Vater war, beleuchtet nur besonders grell: Die Entscheidung war nicht geleitet von der Frage nach dem Kindeswohl.

Kevins Tod ist der traurige Normalfall einer Gesellschaft, die Erwachsenenrechte leichthin vor die der Kinder stellt. Hinter seinem Schicksal verbergen sich ungezählte andere, die nicht schrecklich, aber empörend sind. Kinderärzte klagen längst, dass bei Sorgerechtsentscheidungen die Therapieaussichten der Eltern vor den Rechten der Kinder rangieren. Gerichte siedeln die Religionsfreiheit der Eltern höher an als das Recht muslimischer Mädchen auf volle Teilnahme an der Schulpflicht. Landräte entscheiden gegen einen neuen Kindergarten und lieber für die Lärmschutzwand, denn da stehen die starken Wählerbataillone.

Wir müssen uns auf die Verantwortung besinnen, die neben den Eltern die ganze Gesellschaft für die Kinder hat. Er wird täglich tausendmal verletzt, der Grundgesetzartikel 6, der den Kindern doch den Schutz der staatlichen Gemeinschaft verspricht.

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