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Die Briten sind besonders europaskeptisch. Ihre Sorgen sollte man ernst nehmen.

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Zukunft der Staatengemeinschaft: Europa ist mehr als der Euro

Die gemeinsame Währung ist nicht der Daseinszweck der Europäischen Union. Ihr Daseinszweck ist es, Europa zu ordnen und europäische Interessen weltweit wahrzunehmen. Ein Essay zur Zukunft der Staatengemeinschaft.

Auf die Nachricht, dass die EU den Friedensnobelpreis erhalten würde, haben viele mit Spott und Hohn reagiert. Ausgerechnet jetzt, in Zeiten der Spaltungen und der Krise, soll die Europäische Union als Friedensstifter geehrt werden? Und wo bitte hat die EU Frieden gestiftet? Im Kosovo jedenfalls nicht. Als weltpolitische Macht ist die EU bislang auch nicht aufgetreten, als Friedensengel schon gar nicht. Und was den Frieden in Europa angeht – ist das nicht eher ein Verdienst der Nato?

Doch allen Einwänden zum Trotz: Die EU hat den Preis zum richtigen Zeitpunkt bekommen. Der Friedensnobelpreis erinnert daran, dass die EU viel mehr ist als als ein Markt und eine Währung, nämlich das Fundament von Europas Sicherheit, Freiheit und Prosperität. Und er ist ein Ansporn, diese historische Errungenschaft gegen Ignoranz zu verteidigen und die EU neu zu begründen – sie fit zu machen für das 21. Jahrhundert. Seit drei Jahren ist die EU nur noch fokussiert auf die Krise der gemeinsamen Währung. Höchste Zeit, den Blick mal wieder auf die größeren Zusammenhänge zu richten.

Friede in Europa ist nicht selbstverständlich, nicht naturgegeben. Über Jahrhunderte haben in Europa, dem westlichen Ausläufer der eurasischen Landmasse, zahlreiche kleine, mittlere und große Staaten um Überleben und Vorherrschaft gekämpft. Die Kleinen stets getrieben von der Angst, der Nachbar werde einmarschieren und das Land verwüsten. Und die Großen ließ Bismarcks „Alptraum der Koalitionen“ nicht ruhig schlafen: die Angst, dass sich die anderen Mächte gegen einen verbünden könnten. Unzählige kleinere und zwei Weltkriege sind dieser geopolitischen Konstellation entsprungen. Europa war über Jahrhunderte eine Hobbes’sche Welt, in der nur Macht und Stärke zählten und in der der Schwächere stets alles verlieren konnte.

Es war nicht die EU, sondern die Nato, die die fragile Balance der Staaten in Europa beendet hat, durch amerikanische Übermacht. Doch unter dem Schirm dieses „äußeren Friedens“ konnten die Europäer schrittweise ihren „inneren Frieden“ schaffen. Heute begeistert man sich für Autos und Computerspiele, nicht mehr für Aufmärsche und Uniformen. Kriege zu führen, erscheint heute absurd; dass sich noch die Urgroßväter in den Schützengraben legen und gegenseitig massakrieren konnten, bloß wegen des Verlaufs einer Grenze, ist nicht mehr nachvollziehbar.

Die europäische Einigung hat dabei eine Schlüsselrolle gespielt. Ihr verdanken wir es, dass wir heute in einer integrierten europäischen Gesellschaft leben. „Europa“ besteht heute nicht nur aus einem gemeinsamen Regelwerk und gemeinsamen Institutionen, sondern vor allem aus einem Netzwerk von Beziehungen und täglichen Interaktionen. Regierungen und Beamte sind daran gewöhnt, mit ihren Pendants in Nachbarstaaten permanent zu konferieren und zu Entschlüssen zu kommen. Unternehmen agieren auf dem größten gemeinsamen Markt der Welt, was ihnen die Stärke gibt, global zu expandieren. Menschen reisen und ziehen um in die Nachbarländer. Eine kosmopolitische Elite, eng an die EU angebunden, ist entstanden. Grenzen haben ihren beschränkenden, einengenden Charakter weitgehend verloren. Europa ist offen geworden.

In einer föderalistischen Union wäre Deutschland marginalisiert - so wie heute Bayern in der Bundesrepublik.

Die Briten sind besonders europaskeptisch. Ihre Sorgen sollte man ernst nehmen.
Die Briten sind besonders europaskeptisch. Ihre Sorgen sollte man ernst nehmen.

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Die EU und ihre Vorläufer haben vier geopolitische Verdienste: die Verwandlung der „Erbfeindschaft“ zwischen Frankreich und Deutschland in eine Freundschaft; die Stabilisierung der Demokratie in Griechenland, Portugal und Spanien; die Einbettung der deutschen Einigung; eine Schlüsselrolle bei der Transformation Mittel- und Osteuropas nach dem Untergang des Sowjetreiches. Ohne die europäische Integration würde es in Europa heute womöglich ähnlich aussehen wie im asiatisch-pazifischen Raum, wo Krieg zwischen großen Mächten wieder denkbar ist, wo nationalistischer Furor die Regierungen zur Kompromisslosigkeit zwingt und wo ein Wettrüsten stattfindet. Die asiatische Region bräuchte dringend etwas von jener Ressource, über welche die EU massenweise verfügt: Vertrauen zwischen Nachbarn.

All das ist aber derzeit gefährdet, in doppelter Weise. Einerseits wegen der Fragilität der gemeinsamen Währung, andererseits durch den möglichen Austritt Großbritanniens. Die erste Gefahr ist weitgehend gebannt. Die zweite Gefahr ist noch gar nicht erkannt.

Obwohl sich die Eurozone nur von Gipfel zu Gipfel hangelt, ist es gelungen, den Euro zu stabilisieren. Wirkliches Vertrauen ist nicht zurück, aber es ist klar, dass die Regierungen den Euro halten wollen. Die deutsche Kanzlerin vollzieht dabei einen Balanceakt. Nach außen versichert Angela Merkel, Deutschland stehe mit seinem ganzen Gewicht hinter der Währungsunion. Nach innen betont sie, dass sie die Kosten für die Rettung minimieren will. Dabei hat Merkel immer wieder auf den klassischen Euro-Föderalismus zurückgegriffen, mit der Rede von „mehr Europa“ und „politischer Union“. Das befriedigt beide Seiten – die Deutschen, die seit Adenauer integrationsfreundlich sind, und die Partner und Investoren in der Welt, die den Euro in eine staatsähnliche Konstruktion eingehegt sehen wollen. Und es lenkt ab vom Drängen der Krisenländer, mehr deutsches Geld zu transferieren.

In der Praxis aber ist Merkel, im Gegensatz zu ihrem Finanzminister Wolfgang Schäuble, keineswegs föderalistisch orientiert. Sie gesteht Brüssel nur eine dienende Nebenrolle zu und tritt bei den meisten konkreten Vorhaben, wie sie es zuletzt bei der Bankenaufsicht versuchte, scharf auf die Bremse. In Wahrheit ist Berlin ebenso unwillig, Souveränität abzugeben, wie es Paris ist. Mit Gründen: Würde man Ernst machen mit „mehr Europa“, dann hätte Deutschland viel weniger Selbstbestimmung. In einer föderalistisch organisierten Eurozone von 332 Millionen Menschen würden die 82 Millionen Deutschen politisch marginalisiert – so wie heute Bayern in der Bundesrepublik. Deutschlands heutige Machtstellung beruht auch darauf, dass es als Nationalstaat agieren kann; eine föderalistisch organisierte Eurozone hätte längst Eurobonds eingeführt.

Nach über 20 Krisengipfeln ist klar, dass das europäische Haus nicht neu gebaut wird. Aus der Eurozone wird kein Staat, Brüssel erhält keine souveräne Macht. Die politischen Grenzen der Integration sind erreicht, die Nationalstaaten bleiben Herren im europäischen Haus. Auch in Zukunft werden die Instrumente, andere Staaten der Eurozone zu beeinflussen, Druck unter Gleichen (peer pressure) auszuüben und die Drohung, Gelder zu kürzen, bleiben. In Kernbereichen behalten die großen Mitgliedsstaaten ihr Veto, formal oder informell. Und Berlin wird die Rolle des imperialen Zentrums nicht spielen. Die Deutschen wollen das nicht. Und wenn sie es täten, würden sie auf Widerstand stoßen. Nachbarn würden umgehend Koalitionen gegen den Koloss Deutschland bilden und Berlin isolieren. Ein Albtraum.

England mit der "Mehr Europa"-Rhetorik zu vertreiben, wäre dumm.

Die Briten sind besonders europaskeptisch. Ihre Sorgen sollte man ernst nehmen.
Die Briten sind besonders europaskeptisch. Ihre Sorgen sollte man ernst nehmen.

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Die EU war immer etwas Singuläres, ein Gebilde „sui generis“, wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert hat. Die Nachbildung von staatlichen Institutionen auf europäischer Ebene ist ein Irrweg, die Politik muss stattdessen Kreativität zeigen und etwas Neuartiges schaffen. Und sie muss zeigen, dass die Lehrbuchmeinung über Währungsunionen zu kurz greift – dass souveräne Staaten eben doch in der Lage sind, eine gemeinsame Währung zu managen.

Das gilt umso mehr, als das Beschwören des Föderalismus zu Kollateralschäden führt, die nun ihrerseits die EU mit Desintegration bedrohen. Wann immer Merkel von „mehr Europa“ und „politischer Union“ spricht, hört ein britisches Publikum „Superstaat“ und drängt zum Ausgang. Großbritannien ist eine eminent politische Nation, nationale Freiheit und Selbstbestimmung, gesichert durch eine jahrhundertealte institutionelle Ordnung, gehören zum Kernbestand der Identität. Die Selbstauflösung in einer Föderation ist für Großbritannien unvorstellbar. Eine Mehrheit der Briten will deshalb heute die EU verlassen.

Die Reaktionen darauf sind verhalten. London galt immer als Störfaktor deutsch-französischer Intimität, als Verhinderer von Einheit. Deshalb reagieren Paris, Berlin und Brüssel auf die Entwicklungen in Großbritannien bloß mit einem Achselzucken. Es herrscht die Ansicht, dass die EU Großbritannien nicht braucht. Das aber könnte sich als ein verhängnisvoller Irrtum erweisen.

Erstens könnte ein Austritt Großbritanniens eine Kettenreaktion hervorrufen. Andere EU-Länder, die sich den Briten nahe fühlen – im Norden und im Osten des Kontinents –, könnten ihre Beziehungen zur EU ebenfalls revidieren. Und eine EU, die im Wesentlichen aus einem geschwächten Frankreich, einem bedürftigen Süden und einem Deutschland in der Rolle eines unwilligen Zahlmeisters besteht, wäre weder attraktiv noch auf Dauer lebensfähig.

Zweitens ist Großbritanniens Teilnahme an der EU essentiell wichtig. Der Erfolg der EU beruht auf einem Mix aus politischen Ideen und Traditionen. Großbritannien ist der klassische Anwalt des wirtschaftlichen und politischen Liberalismus, ein Gegengewicht zu etatistischen Präferenzen auf dem Kontinent. Mit einem Ausscheiden Großbritanniens würde die EU erheblich an Kraft und Dynamik verlieren.

Und drittens: Die große Aufgabe für die EU im 21. Jahrhundert besteht darin, ihre Gestaltungskraft auszuweiten – vom eigenen Territorium in die weitere Welt. Angesichts der relativen Schwächung der USA muss Europa mehr tun, um die liberale Weltordnung, von der Freiheit, Sicherheit und Prosperität abhängen, zu stärken. Die EU muss anfangen, weltweit Ordnungspolitik zu betreiben: in der Nachbarschaft; gegenüber alten und neuen Mächten; und in Zonen der Anarchie und Staatslosigkeit, soweit sie strategisch wichtig sind. Großbritannien hat einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, eine schlagkräftige Armee und viel weltpolitische Erfahrung. All das ist wichtig für eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Es ist kein Zufall, dass man eine Britin zur ersten „Außenministerin“ der EU gemacht hat, Catherine Ashton. Und nur wenn Großbritannien und Frankreich sich zusammentun, können sie ein introvertiertes Deutschland dazu bewegen, eine aktivere Außenpolitik zu betreiben.

Der Autor ist Mitarbeiter mehrerer Thinktanks und arbeitet als außenpolitischer Analyst und Publizist in Heidelberg.
Der Autor ist Mitarbeiter mehrerer Thinktanks und arbeitet als außenpolitischer Analyst und Publizist in Heidelberg.

© privat

Berlin muss alles nur Mögliche tun, um Großbritannien im Zentrum der EU zu halten. Das bedeutet, sich von föderalistischer Rhetorik zu verabschieden. Es bedeutet, bei den Maßnahmen zur Stärkung des Euro auch britische Sichtweisen und Interessen zu berücksichtigen. Berlin muss London ein umfassendes, auf britische Bedenken eingehendes Angebot zur engen Zusammenarbeit machen. Großbritannien ist gewiss ein schwieriger Partner – aber das ist Frankreich auch.

Die neue EU, wie sie in der Krise an Konturen gewinnt, darf nicht nur um den Euro herum konzipiert werden. Die gemeinsame Währung ist nicht der Daseinszweck der Europäischen Union. Ihr Daseinszweck ist geopolitisch: den europäischen Kontinent zu organisieren und zu ordnen und es den in der EU verbundenen Staaten zu ermöglichen, gemeinsam ihre weltpolitischen Interessen wahrzunehmen. Ein Austritt Großbritanniens würde beides infrage stellen.

Für Deutschland ist die EU von existenzieller Bedeutung. Sie schafft einen Ring von Freunden, eine zum wechselseitigen Nutzen verbundene, interdependente Nachbarschaft, zusammengehalten durch Vertrauen. In dieser Konstellation kann Deutschland groß und stark sein, ohne die Nachbarn gegen sich aufzubringen. Und es kann seine weltpolitischen Interessen machtvoll zur Geltung bringen. Die Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, sich zu beschränken und immer wieder Kooperation und Kompromiss zu suchen, auch wenn es schwierig ist. Und auch zu zahlen, wenn nötig. Denn die EU bleibt die denkbar beste Investition in die Zukunft Deutschlands und Europas.

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