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Zurückgeschrieben: Läuft wirklich etwas schief im Kinderschutz?

Tagesspiegel-Leserin Dr. Marie-Luise Conen antwortet auf einen Artikel zum Kinderschutz von Autorin Caroline Fetscher.

„Das Drama von nebenan“ vom 31. Januar

Ihr Artikel ist mir Anlass, Ihnen, Frau Fetscher, zu schreiben: Ich frage mich, ob ich in einem Land leben möchte, das so viel Kontrolle und so viel Sicherheitsversprechen seinen Bürgern gibt, dass alle denken, dass dann ein Leben ohne Unglück, ohne Tod, ohne Mord und Tötung von Kindern möglich sei. Vielleicht wird ja bald das Autofahren verboten, da jährlich 3500 Menschen durch Autounfälle zu Tode kommen? In den vergangenen 20 Jahren ist die Zahl der toten Kinder gleich geblieben. Dies ist ein Wunder angesichts der starken Zunahme an Verelendung von Kindern in den Familien und zeugt von einer stetigen Verbesserung der Arbeit von Sozialpädagogen und Sozialarbeitern, die mit diesen Familien arbeiten. Glaubt man wirklich, dass diese Kinderschutzhysterie den Eltern zu einem besseren Umgang mit ihren Kindern hilft?

Das Ausmaß an Kontrolle in den gesamten Hilfen zur Erziehung verhindert regelrecht, dass die wenigen Hilfen noch helfen können. Alle Beteiligten sind inzwischen mehr mit der Dokumentation „ihrer Arbeit“ beschäftigt als mit den Familien selbst. Die Arbeitsbedingungen von ambulanten Helfern sind schlicht eine Katastrophe, von der Bezahlung angefangen bis zu den Rahmenbedingungen (u. a. keinerlei Bezahlung der Wegezeiten). In den Jugendämtern werden wir in Kürze sehr junge Sozialarbeiterinnen haben, die bereits heute nach anderthalb bis zwei Jahren das Handtuch werfen.

Viele verlassen das Arbeitsfeld „Hilfen zur Erziehung“, weil sie sich immer weiterem Ausbau von Kontrolle nicht mehr aussetzen wollen – obwohl sie gerne mit diesen Familien arbeiten. Sie sehen die Potenziale der Familien, sehen welche Entwicklungsschritte Menschen leisten können, wieder aus ihren Krisen oder aus ihren eingefahrenen Mustern herauszukommen. Aber sie sehen auch eine Gesellschaft, die diese Familien aufgegeben hat. In dieser Stadt geht es vielen Kindern schlecht, aber die Politiker sind nicht bereit, dafür zu sorgen, dass es diesen Kindern besser geht – außer Kontrolle fällt ihnen nichts ein.

Berlin hat seit langem diese „Multiproblemfamilien“ aufgegeben!

Dr. Marie-Luise Conen, Berlin

Lesen Sie auf der nächsten Seite die Antwort von Frau Fetscher

In vielem, was Sie ausführen, kann ich Ihnen zustimmen. Es müsste im Kinderschutz mehr getan werden, es wird zu viel bagatellisiert, und vorhandene Mittel werden oft nicht sinnvoll eingesetzt.

Eine Art „Kinderschutzhysterie“ lässt sich nach meinen Jahren der Beobachtung vor allem bei Teilen der Mittelklasse feststellen. Dort wollen überkontrollierende Eltern „alles im Griff“ haben, von der Öko-Ernährung der Kinder bis zum täglichen Lern- und Leistungspensum und dem sozialen Umfeld ihres Nachwuchses. Statt von „Hysterie“ sollte man da allerdings eher von einem Zwangssyndrom sprechen. Die emotionale und physische Freiheit des jungen Individuums wird so subtil wie massiv eingeschränkt.

Mediale und öffentliche Hysterie taucht immer dann auf, wenn wieder ein „Kevin“, eine „Lea-Sophie“ oder eine „Yagmur“ trotz jahrelanger Begleitung der Familie durch das Jugendamt den Tod durch Misshandlung in der Familie sterben. Solche Aufmerksamkeit ebbt jeweils nach einigen Tagen oder Wochen ab, und nichts ändert sich am System. Solche Empörungsschübe fördern zunächst keine klaren Forderungen und Erkenntnisse.

Den beiden Gerichtsmedizinern der Charité geht es in ihrem aktuellen Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“ um konkrete, machbare Reformen. Und es gibt in meinen Augen keinen Grund, diese nicht umzusetzen. Ob die Anzahl der getöteten Kinder konstant bleibt, wie Sie sagen, das lässt sich derzeit kaum nachweisen.

Nach Schätzungen der Deutschen Kinderchirurgischen Gesellschaft sterben in unserm Land jährlich etwa 700 Säuglinge durch die Hand ihrer Eltern oder deren Lebenspartner. Die Polizeistatistik belegt drei ermordete Kinder pro Woche. Mit Verkehrstoten und einer normalen Risikotoleranz der Gesellschaft ist das nicht zu vergleichen. Säuglinge und Kleinkinder sitzen nicht am Steuer und rasen über die Autobahn. Sie sind auf den Schutz der Eltern angewiesen. Wo der Schutz fehlt , haben sie das Recht

auf den des Staates, der per Grundgesetz sein Wächteramt wahrnehmen muss. Übrigens ist die Zahl der Verkehrstoten rückläufig – aufgrund klarerer Regelungen wie Geschwindigkeitsbegrenzung. Warum sollte die Zahl der getöteten Kinder nicht zurückgehen? Solange es keine Leichenschaupflicht für tote Minderjährige gibt, bleibt die tatsächliche Kindesmordstatistik unklar. Solange „Freie Träger“ auf Aufträge der Jugendämter angewiesen sind, klammern sich deren Helfer – schon aus finanziellen Gründen – oft viel zu lange an ihre Aufträge in Problemfamilien, anstatt Kinder aus den physisch und psychisch toxischen Milieus zu entfernen. Solange in den Behörden die Ideologie regiert, leibliche Eltern seien das Wichtigste für jedes Kind, werden unreife, kranke und gewalttätige Eltern weiter über „ihre“ Kinder verfügen können. All das lässt sich ändern, ohne dass deshalb ein System übermäßiger Kontrolle entsteht. Auf all das haben die Kinder ein Anrecht.

— Caroline Fetscher, Autorin und Reporterin beim Tagesspiegel, beschäftigt sich seit 15 Jahren mit Menschenrechten und Kinderschutz

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