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Meinung: Zusammen spielen

Deutsche Kultur – schöner Luxus oder Zukunftskapital? Von Christoph Stölzl

Im Ausland gilt Deutschland als der kranke Mann Europas. In einer gemeinsamen Reihe von Tagesspiegel und DeutschlandRadio Berlin suchen prominente Autorinnen und Autoren nach Wegen aus der Krise.

Wer sich in Deutschland als Mensch mit Kulturneigungen bekennt, hat es gut. Der Staat, dessen Pass wir Kulturbürger tragen, bekennt sich nicht minder zu unseren Neigungen. Es gibt wenig Staaten auf der Welt, die für Kunst und Kultur absolut und relativ zu den Gesamtbudgets so viel Geld ausgeben wie Gemeinden, Länder und Bund in Deutschland. Über 90 Prozent der Kulturausgaben bei uns werden aus staatlichen Haushalten aufgebracht, weniger als zehn Prozent von Privatpersonen, gemeinnützigen Organisationen oder Sponsoren.

In ungefähr 130 professionellen Symphonie- und Kammerorchestern werden jeden Abend die Bögen an die Instrumente gesetzt. Das sind, man glaubt es kaum, so viele Ensembles wie im Rest der Welt zusammen.

Alles in bester Ordnung also? Chöre bereit, Sänger auf dem Sprung, sozusagen bundesweit das „Wachet auf!“ vom Schluss der „Meistersinger“ anzustimmen und in einen Jubel über das Weltniveau der deutschen Kultur auszubrechen? Wer sich allein auf die Statistiken verlässt, der kann sich schon einmal einsingen. Sind die Deutschen wirklich ein Volk von Museumsbesuchern, wie es die gigantischen Zahlen nahe legen? Sind zum Beispiel 100 000 Museumsbesucher, die Bevölkerung einer mittleren Stadt, wirklich 100 000 Individuen, die einmal im Jahr ins Museum gehen? Oder sind es nicht viel wahrscheinlicher 10 000, die zehnmal die heiligen Pforten durchschreiten? Oder gar nur 5 000 Paare gleicher Museumsleidenschaft? Damit sieht die Kulturstatistik sogleich ganz anders aus und wir landen bei der Vermutung, dass das Kulturmilieu eine kleine radikale Minderheit sein könnte. Alle Parolen von der „Kultur für alle!“ ändern nichts daran, dass die Menschen sich ihre Unterhaltungsformen selbst suchen und Kultur dabei nur eine Rolle unter vielen Konkurrenten spielt. Freilich darf man daraus auch nicht gleich die Theorie ableiten, zwischen Kulturkonsumenten und den anderen bestünden quasi ethnographische Unterschiede. Genau das aber macht das Leitmedium unserer Tage, das Fernsehen. Ob öffentlich-rechtlich oder privat, das Fernsehen hat sich auf die Statistik eingestellt, es gebe in Deutschland gerade einmal 19 Prozent „echter Kulturinteressierter“. Die Folge: Kultur wandert ab in die Minderheiten-Kanäle.

Genau das gegenteilige Signal aber bräuchte unser Land. Gerüttelt von der Globalisierung, herausgefordert durch eine europäische und internationale Migration, verunsichert durch einen rapiden Wertewandel der Industriegesellschaft bedürfen wir der Kultur als Labor der Verständigung. Keine praktische Humanität gibt es ohne die ständige Vergewisserung über kulturelle Symbolik. Nichts anderes baut so gut Brücken zwischen unterschiedlichen Menschen, zwischen Fremd und Vertraut, zwischen Alt und Jung, zwischen Arm und Reich. Jede gemeinsame Beschäftigung mit kulturellen Werten führt zu einem Rollenspiel. Kultur ist nie etwas fix Vorgegebenes, in das man sich in Reih und Glied formiert, sondern immer ein wechselnder Text mit wechselnder Besetzung. Ohne diese Spielergemeinschaft kann es Heimat nicht geben. Und ohne Heimat, des bin ich gewiss, auch keine Demokratie. Darum: Der Kultur in Deutschland geht es erst dann wirklich gut, wenn ihre Rolle als demokratiestiftende Kraft endlich entdeckt wird.

Der Autor ist Vizepräsident des Berliner Abgeordnetenhauses. Zu hören ist dieser Beitrag am Sonntag um 12 Uhr 10 auf UKW 89,6.

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