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Elektro-Lastenrad aus Kreuzberg: Gabelstapler lädt Fahrrad

Eine Europalette mit 250 Kilo Gewicht auf dem Rad transportieren? Kein Problem für das Elektro-Schwerlastenrad des Berliner Start-ups Velogista.

"Ich ersetze ein Auto!" steht selbstbewusst auf vielen Lastenrädern, die täglich durch Berlin fahren. Eine nicht ganz wahre Aussage, denn an den Stauraum eines Pkws kommen die zwei- bis dreirädrigen Vehikel mit den großen Boxen noch nicht heran – die nächste Generation aber schon: Mit dem Elektro-Schwerlastenrad des Berliner Start-ups Velogista ist seit Anfang 2014 erstmals ein Fahrrad auf den Straßen der Hauptstadt unterwegs, mit dem sich eine ganze Europalette mit 250 Kilo Gewicht laden lässt. Damit wird es sogar die meisten Autos übertreffen.

"Es fährt sich wie eine Mischung aus normalem Rad und Kleinwagen", sagt der Velogista-Fahrer und Mechaniker Daniel Feske. "Und trotzdem hat man immer die Rechte des Radfahrers: Ich kann auf den Radweg wechseln, komme an vielen Schranken vorbei oder kann durch Parks abkürzen."

Zwei Prototypen des Lastenrads

Bislang besteht die "Flotte" aus zwei Prototypen, die Velogista über genossenschaftliche Beiträge finanziert hat. Ab 17. Oktober startet eine Crowdfunding-Kampagne, mit der das Start-up zwei weitere Räder bauen möchte; 20 000 Euro werden dazu benötigt. Bis 2017 möchte das Unternehmen insgesamt 25 seiner Schwerlastenräder auf die Straße bringen. Für die nähere Zukunft träumen Velogista-Mitgründer Martin Seißler und seine Mitstreiter von einem Berliner Lastenradzentrum mit großer Werkstatt.

Derzeit hat Velogista rund 35 Kunden in Berlin, für die das Unternehmen die Feinverteilung in der Stadt übernimmt: Feske transportiert vor allem Lebensmittel für Biohändler, Gastronomie, Getränkegroßhandel und Manufakturen. "Der Rekord waren 23 Kisten Wasser", sagt er. "Das schafft nicht mal ein kleiner Kombi-Pkw vom Ladevolumen her." Auch ein komplettes Ikea-Sofa hatte Feske schon auf dem Rad – kleinere Umzüge lassen sich mit Velogista problemlos bewältigen.

"Alles ist eine Nummer größer"

"Es geht gar nicht so sehr um die Last, sondern um das Volumen", sagt Seißler. "Bisher war alles, was über 60 x 40 x 40 Zentimeter hinausging, auf Lastenrädern nicht möglich." Das Schwerlastenrad von Velogista hingegen kann mit einem Volumen von 135 x 135 x 95 Zentimetern aufwarten – bei Großkunden werden die Räder ganz selbstverständlich mit dem Gabelstapler beladen.

Doch wie musste das dreirädrige Gefährt konstruiert werden, um Lasten von bis zu 250 Kilo auszuhalten? "Alles ist eine Nummer größer", so Feske. Größere Rohre beim Rahmen, extrem dicke Schweißnähte, dicke Speichen. "Die Gabel ist rund zehnmal so stark wie eine Standardgabel", sagt Seißler. Grundsätzlich basiert das Rad auf dem Rikscha-Prinzip: Beim Unterbau handelt es sich um das Cargo-Trike "Musketier" des E-Bike- und Lastenrad-Herstellers Radkutsche, der schrankartige Aufbau ist eine Sonderanfertigung für Velogista.

Pionierarbeit auf dem Lastenrad

Eine Federung gibt es nicht; die ist bei einem Rad von rund 80 Kilo Eigengewicht ohnehin kaum praktikabel. Gefedert wird das Lastenrad über die 24-Zoll-Laufräder mit extra dicken Ballonreifen. Angesichts der enormen Belastung verfügt das Rad nicht über Hohl-, sondern Vollachsen. Die ersten Kinderkrankheiten der Prototypen wurden in Zusammenarbeit mit dem Hersteller mittlerweile ausgemerzt: So waren etwa bei den ersten Fahrten Speichen gebrochen.

Im Heck des Velos findet genau eine Europalette Platz. Der Laderaum ist 1,35 Meter hoch, ebenso tief und 90 Zentimeter breit.
Im Heck des Velos findet genau eine Europalette Platz. Der Laderaum ist 1,35 Meter hoch, ebenso tief und 90 Zentimeter breit.

© Thilo Rückeis

Velogista leistet in der Tat Pionierarbeit, obwohl es angesichts der Verkehrssituation in Berlin schon längst vergleichbare Initiativen hätte geben können. "Laut dem EU-Forschungsprojekt Cycle-Logistics ließe sich in europäischen Großstädten wie Berlin die Hälfte des Wirtschaftsverkehrs mit Lastenrädern durchführen", so Seißler. Gekommen war ihm die Idee zu Velogista zum einen durch seine eigenen positiven Erfahrungen mit Lastenrädern, zum anderen durch eine Beobachtung vor einer Kreuzberger Bäckerei: "Überall standen Lieferautos: auf den Gehwegen, auf den Fahrradwegen, an den Ecken." Der diplomierte Wirtschaftssinologe befand die Abwicklung des Warenverkehrs als äußerst ineffizient, während gleichzeitig mit dem Lastenrad eine potenzielle Lösung vorhanden war. Gleichzeitig wollte Seißler mit Velogista den Dumpinglöhnen der Lieferbranche etwas entgegensetzen: Alle der derzeit vier Fahrer des Unternehmens werden nach dem Mindestlohn bezahlt, die restlichen acht Mitarbeiter von Velogista arbeiten bislang unentgeltlich an der Umsetzung ihrer Vision.

Realistische Reichweite von 60 bis 70 Kilometern

Auch wenn diese Vision auf der Straße etwas klobig aussieht: Die mächtigen Gefährte sind keinesfalls schwerfällig. "Selbst beladen bei Steigungen fährt es sich sehr leicht – fast wie ein Kinderfahrrad", sagt Feske. Grund dafür ist der 250 Watt starke Radnaben-Elektromotor, der Geschwindigkeiten bis zu 25 km/h ermöglicht. Theoretisch lassen sich mit einer Akku-Ladung 100 Kilometer bewältigen. Das ist aber eher ein theoretischer Wert. Laut Feske liegt die Reichweite bei realistischer Auslastung etwa bei 60 bis 70 Kilometern.

Bislang hat Feske beim Fahren keine negativen Erfahrungen mit anderen Verkehrsteilnehmern gemacht: "Ich hatte anfangs mit mehr Stress von den Autofahrern gerechnet, aber keiner schneidet mich und die Autos überholen mich immer mit großem Abstand. Das hat sicher ein bisschen was mit der Größe des Rades zu tun." Auch Wind und Wetter machen den Fahrern dank einer Frontscheibe auf der Gabel und einem kleinen Dach kaum etwas aus. Dabei entspricht das Vehikel komplett den gesetzlichen Vorgaben: Neben hydraulischen Scheibenbremsen an allen Rädern verfügt das Rad auch über eine Feststellbremse ähnlich der Auto-Handbremse. "Bei der nächsten Generation wollen wir auch Blinker einbauen", sagt Seißler.

Selbst programmierte Navigation

Durch die Größe und das Gewicht des Rades ist eine eher passive Fahrweise angeraten, vor allem was Kurven angeht. Da man auf dem Dreirad leicht erhöht sitzt, hat man als Fahrer eine gute Rundumsicht und kann sich relativ weit links und rechts hinauslehnen. Zusätzlichen Überblick verschaffen sich die Fahrer über eine eigens programmierte Touren-Software, die optimale Fahrtwege möglichst ohne Kopfsteinpflaster berechnet.

Bei den Berlinern kommen die Schwerlastenräder gut an: "Es vergeht kaum eine Fahrt, bei der ich nicht von Passanten auf das Rad angesprochen werde", sagt Feske schmunzelnd. Keine Frage, das Rad ist ein Hingucker, weshalb Velogista die Seitenwände bereits für Werbeanzeigen nutzt. Eine Aufschrift wie "Ich ersetze ein Auto" ist da unnötig: Diesen Fakt erkennt man mit bloßem Auge.

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