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Mord in Ludwigsfelde: Das Geheimnis des Bürgermeisters

Er hatte Ludwigsfelde einen beispiellosen Aufschwung beschert. Doch jetzt sitzt er in Untersuchungshaft: Der Bürgermeister Heinrich Scholl seine Ehefrau ermordet haben. Hat er ein Motiv?

Vielleicht war das sein Plan: In diesem kalten Winter würde er irgendwo im warmen Thailand sitzen. An der Seite einer jungen Frau und 10 000 Kilometer entfernt vom heimatlichen Ludwigsfelde. Es ist aber ganz anders gekommen. Nun sitzt Heinrich Scholl in U-Haft.

Der Ex-Bürgermeister der im ostdeutschen Vergleich erfolgreichsten Industriestadt könnte nach den bisherigen Ermittlungen auch den Rest seines Lebens in einem Brandenburger Gefängnis verbringen. Die Staatsanwaltschaft Potsdam ließ den 68-Jährigen wegen des dringenden Tatverdachtes, seine ein Jahr jüngere Ehefrau ermordet zu haben, vor einer Woche festnehmen.

Seitdem steht das 24 000 Einwohner zählende Städtchen am südlichen Berliner Autobahnring unter Schock. Der äußert sich vor allem im großen Schweigen. Sobald der Name Heinrich Scholl fällt, wenden sich die Menschen ab. Selbst die Rathausspitze, die Parteien, die Stadtverordneten, frühere Vereinsfreunde und Nachbarn blocken ab oder schütteln stumm den Kopf.

„Die Menschen wollen das Geschehene einfach nicht wahr haben“, sagt der aus der Region stammende CDU-Landtagsabgeordnete Danny Eichelbaum. „Sie trauen dem Mann, der immerhin von 1990 bis 2008 die Geschicke im Ort führte, so eine Tat nicht zu.“ Doch die „Thailand-Version“ sei längst mehr als nur ein Gerücht. Scholl sei regelmäßig zu einer Frau aus Thailand nach Berlin gefahren, habe bei ihr gewohnt und sei erst kurz vor Weihnachten wieder nach Ludwigsfelde zurückgekehrt.

Die ermittelnde Staatsanwaltschaft Potsdam hält sich mit Details zurück. Alle Fragen nach den Umständen des Mordes und den konkreten Verdächtigungen gegen Heinrich Scholl bleiben unbeantwortet. „Wir stehen erst ganz am Anfang“, sagt Oberstaatsanwältin Bianca Stohr. Deshalb herrscht wohl auch seit Tagen reges Treiben im Wohnhaus der Scholls in der Walter-Rathenau-Straße. Polizeibeamte durchkämmen jeden Winkel des holzvertäfelten Gebäudes aus den 30er Jahren. Vielleicht suchen sie tatsächlich nach dem kleinsten Hinweis auf eine möglicherweise schon länger geplante Ausreise des Hausherrn nach Thailand.

Die sogenannte Holzhaussiedlung, die 1944 am Rande der Werkswohnungen für Daimler-Werke entstanden war, macht einen gepflegten Eindruck. Die Straßennamen sprechen für sich. Da kreuzt sich der Rosenweg mit dem Blumen- und dem Margeritenweg, zweigen von der Taubenstraße der Flieder- und Holunderweg ab oder die Meisen- und die Rehstraße, und mittendrin liegt das Anwesen von Scholl.

„Mir ist nichts aufgefallen“, sagt ein älterer Mann aus der Nachbarschaft. „Der Herr Scholl soll ja schon eine Weile nicht mehr zu Hause gewesen sein. Aber das merkt hier niemand.“ Dann fügt er noch hinzu, dass der Bürgermeister „ausgezeichnete Arbeit“ geleistet habe. „Nur die blöde Autobahn ist kaum leiser geworden“, meint er mit Blick auf die hohen Schallschutzwände direkt hinter den Häusern der Rathenaustraße. Der Verkehr dröhnt hier unentwegt, Tag und Nacht, und legt sich als ständiges Rauschen über die Siedlung.

Doch betroffen ist eigentlich ganz Ludwigsfelde. Die Autobahn führt seit den 30er Jahren auf einem heute sechsspurigen Damm und einer langen Brücke direkt durchs Zentrum und teilt die Stadt. Nicht zuletzt deshalb fielen die Prognosen nach der Wiedervereinigung ziemlich düster aus. Von einer „sterbenden Stadt ohne Lebensqualität“, „einem großen Industriefriedhof“ oder „viel Arbeit für die Abrissbirne“ war damals die Rede.

Bürgermeister Scholl ließ sich wie einen Heilsbringer feiern

Das Sterben der Stadt wurde vor allem mit dem Ende der Lkw-Fertigung begründet. 10 000 Menschen drohte die Arbeitslosigkeit, nachdem am 17. Dezember 1990 der letzte „L 60“ vom Band gelaufen war. Die Treuhand hatte für den Lastwagen keine Marktchancen gesehen und deshalb das Todesurteil gesprochen. Doch vor allem Heinrich Scholl, der mit einer Handvoll Gleichgesinnter schon im November 1989 den sozialdemokratischen Ortsverein Ludwigsfelde gegründet hatte und wenige Monate später zum ersten demokratisch gewählten Bürgermeister wurde, stemmte sich gegen den drohenden Niedergang.

Der studierte Ingenieur machte sich auf den Weg zu den größten westdeutschen Konzernzentralen und fand dort sogar Gehör. Die angeblich so lästige Autobahn machte er einfach zum „großen Standortvorteil“. Als er dann noch einen beispiellos niedrigen Steuersatz durchsetzte, kauften plötzlich namhafte Firmen Gewerbeflächen oder mieteten sich die alten Fabrikhallen. Daimler-Benz ließ hier zuerst den „Vario“ und dann den „Vaneo“ produzieren und begann 2006 mit der Montage des Erfolgsmodells „Mercedes Sprinter“. MTU stellt unter anderem das Turboprop-Triebwerk TP400-D6 für den Airbus A400M her, und VW beliefert von der Stadt aus zweimal täglich die 600 ostdeutschen Händler mit Originalteilen. Siemens unterhält eine Logistikniederlassung und plant ein Testzentrum für Gasturbinen. In den diversen Gewerbeparks arbeiten mehr als 1000 Firmen mit zusammen mehr als 10 000 Jobs.

Heinrich Scholl versteckte sich nicht hinter den Erfolgen, sondern ließ sich oft wie ein Heilsbringer feiern. Dreimal hintereinander wählten ihn die Einwohner mit jeweils überwältigender Mehrheit zum Bürgermeister. Den Stuhl im neuen Rathaus musste er 2008 nur aus Altersgründen räumen. Er hätte gern weitergemacht, hieß es. Sogar ein kleines Denkmal hat er sich auf den überdimensionierten und kahl wirkenden Rathausvorplatz gesetzt. Hier stehen seit einigen Jahren Reste der einst imposanten „Stundeneiche“, die dem Ausbau der Autobahn zum Opfer gefallen war. Von ihrem Standort dauerte die Fahrt nach Berlin einst rund 60 Minuten. Scholl holte den Baum demonstrativ in die Mitte der Stadt, wo ihm eine Künstlerin das heutige Aussehen verpasste. Für viele Ludwigsfelder sind es einfach „zwei Nackte“.

Die Assoziation liegt nahe, hat doch Heinrich Scholl auch in puncto Freikörperkultur seiner Stadt ein Aushängeschild verschafft. Die Kristallsaunatherme gilt als Europas größtes überdachtes FKK-Bad. Denn hier ist Badebekleidung nicht erwünscht und nur an zwei Tagen in der Woche erlaubt. Das Konzept geht täglich auf. Vor allem aus Berlin strömen die Massen hierher.

Das unfreiwillige Ausscheiden aus dem Bürgermeisterjob muss für Heinrich Scholl schwer gewesen sein. Er verschwand zwar dank seines ehrenamtlichen Engagements etwa für das sich um benachteiligte Jugendliche kümmernde Kinderdorf nicht ganz aus der Lokalpresse, aber die öffentlichen Auftritte gingen doch zurück. Er gründete eine Beratungsfirma für Bauunternehmen, die aber nicht zuletzt wegen Nachforschungen der Staatsanwaltschaft Neuruppin nie so recht ins Laufen kam. „Wir ermitteln gegen Herrn Scholl und andere Politiker im Kreis Teltow-Fläming wegen des Verdachts der Vorteilsnahme im Amt“, bestätigt Oberstaatsanwalt Frank Winter. So soll Heinrich Scholl von einem Bauunternehmer, der unter anderem das Ludwigsfelder Stadion ausgebaut hatte, Zuwendungen, bezahlte Essen und Reisen nach Mallorca erhalten haben. Der betroffene Bauunternehmer Manfred Cieslik weist alle Vorwürfe und den Verdacht der Bestechung zurück. „Heinrich Scholl ist ein grundsolider Mensch“, sagt er. „Bei ihm galt der Grundsatz ‚Ein Mann ein Wort‘. Einen Mord traue ich ihm überhaupt nicht zu.“

Bei der Beisetzung stand er unter Tränen am Grab

Doch genau wegen des Verdachts der Tötung seiner Ehefrau sitzt er nun in Untersuchungshaft. Bei den Ermittlungen spielt auch ein schmales Buch mit einer erotischen Erzählung eine Rolle, das Heinrich Scholl unter dem Titel „Wachgeküsst“ geschrieben hat. Seinen Helden Henry Sander lässt er reichlich Abenteuer mit einer jungen Frau in Potsdam erleben. Die autobiografischen Züge sollen unverkennbar sein, heißt es aus dem Rathaus. „Er hat sogar eine Stadtangestellte exakt beschrieben“, verrät eine Mitarbeiterin, bevor sie wortlos in ihrem Amtszimmer verschwindet. Rund 100 Exemplare soll Scholl verteilt haben. Zu kaufen gibt es das Werk nicht. So machen in der Stadt nur einige brisant klingende Sätze über die zerrüttete Ehe und die Leiden des Henry Sanders die Runde. Selbst die Ankündigung eines Tötungsverbrechens an seiner Frau fehlt nicht. Denn auf die Frage, ob er sich jemals scheiden lassen wollte, antwortet Sander, er habe „an Scheidung nie, an Mord schon“ gedacht.

Falls sich bestätigt, wovon die Staatsanwaltschaft trotz der Unschuldsbekundungen des Ex-Bürgermeisters nach wie vor ausgeht, muss die Tat lange geplant gewesen sein. Denn zwei Tage vor dem Jahreswechsel gab Scholl bei der Polizei selbst eine Vermisstenanzeige auf. Seine Frau sei zusammen mit ihrem Hund Ursus von einem Spaziergang in ein nahes Waldgebiet nicht zurückgekehrt. Die darauf gestartete Suchaktion konnte schon am nächsten Tag eingestellt werden. Unter Zweigen und Blättern stießen die Polizisten auf die Leiche einer Frau und auf einen toten Hund. Schon bald gab es keine Zweifel mehr. Brigitte Scholl war ermordet worden. Bei ihrer Beisetzung stand auch Heinrich Scholl zusammen mit dem gemeinsamen Sohn unter Tränen am Grab. „Dein Heiner“, stand auf der Schleife seines Kranzes.

Als stärkstes Beweismittel gilt bislang die Ortung seines Handys zum Tatzeitpunkt in jenem Waldstück. Während er selbst angab, während der fraglichen Zeit im Schwimmbad gewesen zu sein, ergaben die ausgewerteten Daten ein ganz anderes Bild. Bis zu vier Wochen lassen sich die Aufenthaltsorte eines Handys zurückverfolgen.

In Ludwigsfelde geschehen unterdessen merkwürdige Dinge. In einem Anruf bei der Polizei nannte ein Mann die Namen von elf bekannten Bürgern der Stadt. Ihnen werde Ähnliches passieren wie der ermordeten Brigitte Scholl, drohte er. Die Polizei ermittelte in kurzer Zeit einen Einwohner mittleren Alters als Anrufer. Unter den von ihm bedrohten Personen befand sich auch der jetzige Bürgermeister Frank Gerhard. Er verweigert jedes Gespräch zum Fall, der die Stadt so unter Schock hält.

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