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Brandenburg: Nach Hause zurückgekehrt

Sylvia Ruth Gutmanns Eltern waren Berliner, bis sie 1938 fliehen mussten. Jetzt erinnern Stolpersteine an sie

Mit dem hellen Holz und dem dunklen Kunststoffbelag unterscheidet sich diese Treppe wenig von hunderttausend anderen in Berlin. Dennoch kommt Sylvia Ruth Gutmann immer wieder gerade hierher, setzt sich auf die Stufen und fährt mit der Hand über das Geländer. Denn an keinem Ort der Welt fühlt sie sich ihren Eltern näher als im Treppenhaus des Altbaus in der Raumerstraße 21 in Prenzlauer Berg.

An diesem Geländer hat sich Mama festgehalten, über diese Stufen sind ihre Füße gelaufen, sagt die 66-jährige zierliche Frau und schließt für einen Moment ganz fest die Augen. Die schöne Malcha Gutmann mit ihren roten Haaren und grünen Augen und ihr Mann Nathan mit dem ernsten Gesicht werden für einen Moment wieder lebendig. Das junge jüdische Paar ist nach der Hochzeit 1930 hier eingezogen.

Am Freitag wurden vor dem Haus zwei so genannte Stolpersteine ins Pflaster eingelassen, die an die beiden früheren Hausbewohner erinnern. Heute um 13 Uhr werden die Messing-Täfelchen mit einer kleinen Feier eingeweiht. Das hat Sylvia Ruth Gutmann erreicht, die jüngste Tochter. Vor drei Jahren ist die Amerikanerin nach Berlin gezogen und den Spuren gefolgt, die ihre Eltern in Adressbüchern und amtlichen Dokumenten hinterlassen haben. Mit den Stolpersteinen habe ich Mama und Papa nach Berlin zurückgebracht, sagt sie, kniet nieder und streicht zärtlich über die Täfelchen. In ihren Augen stehen Tränen. Jetzt habe sie ein Grab, an dem sie um ihre Eltern trauern könne.

Die Gutmanns bekamen zwei Töchter, als sie in der Raumerstraße wohnten. Sylvia Ruth wurde erst später geboren. Ihre älteste Schwester Rita habe oft von den Spaziergängen im Tiergarten erzählt, vom Picknick im Grunewald, Kuchenessen auf dem Ku’damm und dass der Vater so gerne in die Oper gegangen sei. Viel Geld hatten die Gutmanns aber nicht, Nathan ernährte die Familie als Handlungsreisender für Kosmetikprodukte. Trotzdem waren sie bestimmt glücklich in Berlin, sagt Sylvia Ruth Gutmann. „Ich hingegen kannte meine Eltern nur gehetzt, voller Angst, ständig auf der Flucht.“

1938 flieht die Familie mit den beiden Töchtern Rita und Suzy und zwei Koffern nach Paris, dann nach Belgien, wo am 5. Mai 1939 die dritte Tochter Ruth geboren wird. Alle rufen sie Sylvia, der Name Ruth ist zu jüdisch, zu verdächtig. Als die Nazis in Belgien einmarschieren, versuchen die Gutmanns über die französischen Pyrenäen nach Spanien zu fliehen, aber der Bergführer will die Kinder nicht mitnehmen. Die Familie bleibt in Südfrankreich, ohne Pässe, ohne Geld. 1942 werden sie entdeckt, Polizisten verhaften die Mutter und die drei Mädchen und bringen sie ins Übergangslager Rivesaltes. Den schwer kranken Vater lassen sie im Bett liegen. In Rivesaltes wird die Mutter gefragt, ob sie die Kinder in die Viehwaggons mitnehmen will. Sie entscheidet sich, die Mädchen zurückzulassen. Sie werden gerettet.

Das alles hat Sylvia Ruth Gutmann recherchiert, in französischen und deutschen Archiven, sie hat Dutzende Bücher über Rivesaltes gelesen und über Drancy, dem zentralen französischen Sammellager, von wo aus die Mutter und später auch der Vater nach Auschwitz deportiert wurden. Aber all das Wissen kann die Erinnerung an die Eltern nicht ersetzen. Die aber hat sie verloren, und das quälte sie zunehmend, je älter sie wurde.

Etwa den Moment, als sie ihre Mutter zum letzten Mal gesehen hat in der Schlange vor den Viehwaggons, kennt sie nur aus den Erzählungen ihrer Schwestern. Sie habe sich aus dem Laufstall losreißen wollen, um zur Mutter zu laufen. „Mama konnte sich nicht verabschieden, sie konnte nicht mal lügen und uns sagen, dass sie bald wiederkommt.“

Die Mädchen werden vom Roten Kreuz aus dem Lager geschmuggelt, leben ein paar Jahre in der Schweiz. Sylvia Ruth Gutmann ist sieben, als sie mit ihren Schwestern in den USA ankommt. Die Vergangenheit war wie ausradiert, sagt sie. „Als ob ich in New York vom Himmel gefallen wäre.“ Sie fügt sich ein in das neue Leben, absolviert die Schule, heiratet mehrmals und zieht einen Sohn groß. Mit 55 Jahren bricht sie psychisch zusammen und erkennt, dass sie ohne Wurzeln, ohne die Vergangenheit immer leben wird wie in einer fremden Haut.

Also macht sie sich auf den Weg. Mit den Stolpersteinen hat sie nun nicht nur ihre Eltern „nach Hause“ gebracht, wie sie sagt, sondern auch sich selbst einen Teil ihrer Identität geschenkt – und Berlin Erinnerungen an zwei gelebte jüdische Leben.

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