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Brandenburg: Neuruppiner Bilderbogen

Neo-Nazis und sozialer Frust: In der Fontanestadt erlebt Platzeck Brandenburgs Probleme hautnah

Neuruppin – Martina Krümmling ist noch immer fassungslos. Dabei haben sich die jungen Neonazis, die die Wahlkundgebung von Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) gezielt gestört haben, längst aus dem Staub gemacht. „Das gab es hier noch nie. Ich zittere immer noch“, sagt die junge Frau, ehe sie weiter eindringlich auf Platzeck einredet: Er möge sich bitte dafür einsetzen, dass der Kurde Celal Kutmu mit seiner Frau und den vier Kindern nicht in die Türkei abgeschoben wird, wo er als politisch Verfolgter einst inhaftiert gewesen sei, verlangt sie. Kutmu lebe seit neun Jahren in Neuruppin, habe Arbeit, spreche Deutsch. „2000 Neuruppiner haben unterschrieben. Geben Sie doch den Stempel“, bittet der 47-jährige Kutmu, der daneben steht, Platzeck. Doch der Regierungschef und auch Landrat Christian Gilde (SPD) können keine Hoffnung machen. Gilde verweist auf die Gesetze, das ablehnende Votum der Härtefallkommission, die schwierige Asylfälle prüft. „Wir müssen alle gleich behandeln“, sagt Platzeck. Martina Krümmling schüttelt enttäuscht den Kopf: „Bald ist Neuruppin ausländerfrei. Das ist es, was die Neonazis wollen.“

Zuvor haben rund 300 Zuhörer eine teils beklemmende Wahlkundgebung in der Fontanestadt erlebt: Hier vielleicht 20 junge Menschen, die mit Plakaten für die kurdische Familie demonstrierten – wahrlich keine Selbstverständlichkeit in dem gegenüber Fremden oft wenig toleranten Land und dort der kleine Trupp Neonazis, der zunächst gar nicht auffällt: Denn die acht oder zehn jungen Männer, fast alle in schwarzen T-Shirts, haben sich unauffällig unter die Menge gemischt. Erst als Platzeck die Bühne betritt, mit seiner Rede beginnt, schreien sie abwechselnd: „Hau ab!“, „Schaff Arbeit!“. Der Wortführer steht in herausfordernder Positur direkt an der Bühne und ruft immer wieder hasserfüllt: „Scheiß BRD-System.“

Irgendjemand dreht die Lautstärkeregler höher. Platzeck lässt sich nicht beirren, spricht noch leidenschaftlicher. Als er für die Angleichung des Arbeitslosengeldes II wirbt, die von der Union geplante Anhebung der Mehrwertsteuer und die Abschaffung der Pendlerpauschale attackiert, klatschen sogar Anti-Hartz-IV-Demonstranten. Schwedens Botschafter Carl Tham, der einmal den Wahlkampf in der ostdeutschen Provinz erleben will und in der Menge steht, zeigt sich beeindruckt: „Ein sehr kraftvoller, standhafter Politiker.“ Platzeck gehöre zur kommenden Führungsgeneration der SPD, meint er.

Es ist der Ostprignitz-Ruppiner Landrat Christian Gilde, der den Wortführer der Neonazis nach der Kundgebung entlarvt: Er verwickelt ihn in einen Disput - mit bohrenden Fragen nach seinen politischen Zielen. „Wir brauchen Raum. Ich bin Bauer“, tönt der. Heißt das, Deutsche sollen nur deutsche Lebensmittel essen? „Natürlich.“ In Flugblättern, die die Neonazis auf dem Platz verteilen, wird zum „Wahlboykott“ aufgerufen. Verantwortlich: Mario Schulz, der frühere NPD-Landeschef. Er trat aus, weil ihm die NPD nicht rechts, nicht ausländerfeindlich genug war: Sie hatte einen Bosnier kandidieren lassen. Schulz, inzwischen Anführer der „Bewegung Neue Ordnung“, ist auch auf dem Platz. Seine Leute fotografieren Ordner und Journalisten. „Schlimm, dass die hier so ungehindert provozieren dürfen“, klagt ein Neuruppiner. Als die Neonazis schließlich mit triumphierenden Mienen abziehen, stört die Polizisten nicht einmal, dass eines ihrer beiden Autos vorn kein Nummernschild trägt. Erst als ein Journalist sie darauf aufmerksam macht, werfen sie einen kurzen Blick in die Papiere. Dann dürfen Schulz und Konsorten wegfahren.

Platzeck hört sich derweil an einem langen Biertisch vor der Bühne die Sorgen der Neuruppiner an: Eine junge Frau beklagt sich, dass sie keinen Job in der Jugendarbeit finde. „Schulen Sie in die Altenpflege um, dort werden Pfleger händeringend gesucht“, rät Platzeck. Eine andere Frau klagt, dass sie wegen Hartz IV mit dem erwachsenen Sohn in einer Ein-Zimmer-Wohnung leben soll. Platzeck mag das nicht glauben, lässt den Fall von einem Mitarbeiter notieren: „Wir prüfen das.“ Platzeck lässt sich Zeit, einer nach dem anderen kommt zu Wort.

Anders als vor der Landtagswahl, wo wegen Hartz IV Eier flogen, ist diesmal alles ruhig und entspannt. Man hört dem Landesvater zu, obwohl er keine Wunder verspricht, obwohl er loyal für Kanzler Gerhard Schröder wirbt: „Er ist der Bessere“. Auf der Rückfahrt im Auto sinniert Platzeck: „Die Gespräche nach der Rede sind immer das Wichtigste."

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