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Politik: … der Schein trügt

Wahrscheinlich fällt ausgerechnet im beschaulichen Osnabrück am kommenden Dienstag ein Grundsatzurteil, das die Leitkulturdebatte in Deutschland neu beleben wird. Eine 68-jährige Frau aus dem Bistum Oldenburg klagt vor dem dortigen Verwaltungsgericht auf Rückerstattung der Kirchensteuer.

Wahrscheinlich fällt ausgerechnet im beschaulichen Osnabrück am kommenden Dienstag ein Grundsatzurteil, das die Leitkulturdebatte in Deutschland neu beleben wird. Eine 68-jährige Frau aus dem Bistum Oldenburg klagt vor dem dortigen Verwaltungsgericht auf Rückerstattung der Kirchensteuer. Die rüstige Dame macht geltend, dass sie mehr als 30 Jahre lang nur um des lieben Friedens willen mit den Schwiegereltern als Katholikin gelebt habe, in Wahrheit aber gar keine sei! Der Frau geht es um die vergleichsweise bescheidene Summe von 1300 Euro – dem Rest der Republik indes muss es darum gehen, wie viel Schein erlaubt ist, damit das Sein erträglich bleibt.

Bitte, wir wollen uns hier nicht in Details verfieseln, dergestalt, dass es für die Klägerin womöglich auch unter dem Gesichtspunkt der Sozialhygiene entschieden einfacher gewesen wäre, wenn sie ihrem Schwiegerpapa den alljährlichen Kontrollblick auf die Lohnsteuerkarte mit Nachdruck verweigert hätte. Wahrscheinlich hätte der anfangs noch wahnsinnig Trara gemacht, sich irgendwann aber sogar damit abgefunden, so nach zehn, 15 Jahren. Doch das sind allemal Familieninterna und deshalb von außen nicht zu beurteilen.

Weit wichtiger ist das Grundsätzliche. Was darf der Einzelne, wann muss der Staat ran? Ausgleichende Gerechtigkeit gleichsam als Bringschuld vom Leviathan einzufordern, ist ja derzeit schwer in Mode. Kaum ein Tag vergeht ohne das Lamento irgendeines Nichtsnutzes, der sich von den Wellen der Globalisierung oder irgendwelchen anderen Phänomenen überspült fühlt. Gut, man gibt doch gerne. Wozu ist der Staat schon da.

Problematisch wird es, wenn neuerdings sogar die Scheinheiligkeit auf dem Klagewege refinanziert werden soll. Wo fängt das an, wo hört es auf? Das falsche Lächeln für den Chef, kaum dass der um die Ecke biegt – später ein Fall für die Krankenkasse? Rasch ist hier das Argumentationsgerüst gezimmert, dass man nur wegen des Betriebsfriedens stets freundlich getan habe, nun aber der dadurch hervorgerufene Faltenwurf im eigenen Gesicht empfindlich störe.

Der Kaffee für die Kollegen in der Kantine. Das gewaschene Auto. Der gepflegte Vorgarten. Die geschnittenen Fingernägel. Was, wenn uns Deutschen all das im Grunde wesensfremd sein sollte? Dann wäre wieder mal bewiesen, welch Trottel Marx doch war. „Der gesellschaftliche Schein bestimmt das Bewusstsein“, hätte es heißen müssen. Vbn

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