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Politik: ...ein Mythos absäuft

Die Kunst der Kulturkritik besteht darin, den Lauf der Welt nicht nur in den schwärzesten aller Farben zu beschreiben, sondern diese Diagnose auch in Bilder zu kleiden, die uns den Ernst der Lage erst so richtig deutlich werden lassen. Das vermutlich prägnanteste dieser Bilder stammt aus der christlichen Seefahrt und trägt den Namen „Titanic“.

Die Kunst der Kulturkritik besteht darin, den Lauf der Welt nicht nur in den schwärzesten aller Farben zu beschreiben, sondern diese Diagnose auch in Bilder zu kleiden, die uns den Ernst der Lage erst so richtig deutlich werden lassen. Das vermutlich prägnanteste dieser Bilder stammt aus der christlichen Seefahrt und trägt den Namen „Titanic“.

Denn, mal ehrlich: Ist sie nicht so, die Welt? Mit Höchsttempo stampft sie der Katastrophe entgegen, gelenkt von blinden und tauben Dödelkapitänen, die „Volldampf voraus!“ brüllen und Eisberge nur als kleines Navigationsproblem auf dem Weg zum blauen Band kennen, bevölkert von dekadenten Luxusmenschen, die den Kaviar mit dem ganz großen Löffel nehmen, während die Kapelle dazu den immer wieder allerletzten Tango spielt. Und drunten in der Holzklasse sitzen, ahnungslos, jene armen Passagiere, denen es zuerst an den Kragen geht.

Nun allerdings scheint sich herauszustellen, dass das Bild möglicherweise ebenso schief ist wie die bisherigen Erkenntnisse über den Hergang der Katastrophe. Nicht menschliche Hybris nämlich habe den Zusammenstoß verursacht, meint ein Schiffbauingenieur aus Amerika, sondern ein außer Kontrolle geratenes Kohlefeuer im Kessel, das gewissermaßen wie ein klemmendes Gaspedal im Auto gewirkt habe. Die angeblich eitlen, rekordsüchtigen Fatzkes am Steuerruder – waren sie am Ende nur hilflose Getriebene, die tödlich lange Minuten „Hängt die Kronleuchter höher!“, „Volle Kraft zurück!“ oder schließlich nur noch „Oh shit!“ riefen, als das finale Knirschen an der Bordwand einsetzte?

Andererseits ist dieses neue Bild der Titanic nicht ganz reizlos, möglicherweise der allgegenwärtigen Informations- und Mediengesellschaft sogar angemessen. Denn über die Temperatur im Maschinenraum sind wir ja lückenlos informiert, im Sekundentakt überschlagen sich die Ansagen „Reformieren!“, „Abschaffen!“, „Hände weg!“, während der Dampfer der Weltgeschichte ungerührt...

Ja, schon gut, wir lassen die Metaphern im Dorf, zumal bald vermutlich das gesamte Titanic-Modell so oder so nichts mehr hergibt. Denn im großen Wissenschaftsblatt „Bild“ war jetzt das Brandenburger Tor zu sehen, am Fuße umspielt von jenen Wassermassen, die bald nach Deutschland hineinplätschern werden, wenn erst das Eis an den Polen geschmolzen ist. Was praktisch sofort passieren kann.

Die umwälzende Bedeutung dieses Ereignisses liegt auf der Hand: Spätestens zu diesem Zeitpunkt sind nämlich auch die doofen Eisberge endgültig weg. Und wir können auf der Titanic endlich wieder richtig Gas geben. bm

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