zum Hauptinhalt

Prozess gegen Verena Becker: RAF: Die offene Wunde

Sechs RAF-Kugeln haben ihn 1977 getroffen, aber der Polizist Wolfgang Seliger überlebte. Heute plagt ihn ein schrecklicher Verdacht. Vielleicht kann der Prozess gegen Verena Becker nächste Woche eine Antwort geben.

Ein verbogenes Blechschild hängt jetzt an der Stelle, wo er lag, zusammengekrümmt, mit sechs Kugeln im Bauch. Mit verrosteten Drähten ist es in Hüfthöhe an den Drahtzaun geklemmt. Wolfgang Seliger deutet mit einem kurzen Kopfnicken zu dem Schild. „Hm“, sagt er, „damals war es noch nicht da.“ Damals wucherten auf dem drei Meter langen Streifen vor dem Zaun auch nicht Gebüsch und ungepflegtes Gras. Damals war da festgestampfte Erde mit vielen Kieselsteinen. Der Streifen trennt den Zaun von der ruhigen Höristraße in Singen am Hohentwiel.

Am 3. Mai 1977 parkte genau da, wo jetzt das Schild hängt, um 9.15 Uhr ein VW Passat, die Motorhaube zeigte zum Zaun. Vor der Haube lag Seliger im Blut und kämpfte um sein Überleben. Er war schwer verletzt vor den Kühler gekrochen, mehrfach getroffen. Aber Günter Sonnenberg stand immer noch vor ihm und schoss und schoss und schoss. Bis das Magazin leer war. Neun Kugeln insgesamt, sechs hatten Seliger getroffen. Eine heimtückische Aktion, Seliger wollte nur den Pass kontrollieren, Routine.

Sonnenberg gehörte zur Roten Armee Fraktion (RAF). Vier Wochen zuvor hatte ein RAF-Kommando Generalbundesanwalt Siegfried Buback erschossen. Sonnenberg zählte zum Kommando.

Drei Meter neben Seliger lag sein Kollege Uwe Jacobs. Er trug Zivilkleidung, sein rechter Unterarm blutete; eine Kugel hatte ihn glatt durchschlagen. Jacobs lag regungslos am Boden, er stellte sich tot. Vor ihm stand Verena Becker, RAF-Mitglied wie Sonnenberg. Sie schoss noch mal auf den wehrlosen Jacobs. Diesmal durchschlug die Kugel Jacobs Lederweste, genau zwischen seinem Kopf und seinem angewinkelten Arm.

33 Jahre später schlendert Seliger von dem verbogenen Schild 30 Meter weiter zu einer Kastanie mit knorrigem Stamm und riesiger Krone. Seliger legt den Kopf in den Nacken. „Damals war sie erheblich kleiner“, sagt er dann, „sie ist enorm gewachsen.“ Er kommt oft hier vorbei, er ist immer noch Polizist in Singen, inzwischen allerdings Hauptoberkommissar, zuständig für Kleinkriminalität.

Die Kastanie steht an der Straße wie ein Mahnmal. „Immer wenn ich sie sehe, erinnere ich mich an die Tat“, sagt Seliger. „Es wird nie weggehen.“

Aber die Kastanie steht auch für den Schutzschild, der um seine Seele liegt. Mit jedem neuen Jahresring der Kastanie wuchs auch die emotionale Distanz des Polizisten Seliger zu den Schüssen von damals. „Ich kann jetzt darüber reden, es belastet mich nicht mehr.“ Der 53-Jährige führt zu den Stationen der damaligen Aktion wie ein Stadtführer, der Touristen erklärt, wo der RAF-Terror mit grausiger Gewalt über das Städtchen in der Nähe der Schweizer Grenze hereingebrochen ist. Da drüben, in diesem Modegeschäft, da war früher das Polizeirevier, hier, an dem Zaun wurde geschossen, und da hinten, auf der Wiese am Stadtrand, da wurden Sonnenberg und Becker nach einer wilden Schießerei festgenommen. Wenn er mit der rechten Hand in eine Richtung deutet, sieht man den verkürzten Mittelfinger. Er ist die einzige sichtbare Erinnerung an die Schüsse von 1977.

Aus dem jungen Streifenpolizisten Seliger ist ein Mann mit kantigen Gesichtszügen und einem Drei-Tage-Bart geworden, zwischen den kurz geschnittenen schwarzen Haaren tauchen erste graue auf. Günter Sonnenberg lebt als Pflegefall irgendwo in Deutschland. Eine Kugel hatte ihn bei der Festnahme hinterm Ohr getroffen, 15 Jahre hatte er im Gefängnis gesessen. Und Verena Becker ist heute eine 58-jährige Frührentnerin, die leicht gebeugt durch die Straßen läuft. Es gibt ein Foto von ihr, sie sieht aus wie eine Frau, die nachmittags Freundinnen im Café trifft. Für Singen hat sie lebenslang bekommen, 1989 wurde sie begnadigt. Irgendwann sagt Seliger: „Es ist alles Zeitgeschichte. Wir waren einfach zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort.“

Aber vielleicht waren sie doch nicht bloß zur falschen Zeit am falschen Ort, der 20-jährige Seliger und der 21-jährige Jacobs. Vielleicht wurden sie unter den Augen des Verfassungsschutzes regelrecht geopfert. Diese Frage treibt Seliger zurzeit um. „Vielleicht“, sagt er, „kommt im Prozess etwas heraus.“

Der Prozess. Heute in einer Woche wird Verena Becker vor dem Oberlandesgericht Stuttgart stehen, angeklagt als Mittäterin beim Mord an Generalbundesanwalt Buback. 2009 hatten Techniker Beckers DNA-Spuren auf Briefumschlägen gefunden, in denen RAF-Erklärungen zum Attentat verschickt wurden.

Es gibt viele Fragen zu diesem Prozess, Fragen ohne öffentliche Antworten. Sie verleihen diesem Prozess etwas Mysteriöses. War Becker die Todesschützin? Wird sie von der Bundesanwaltschaft geschützt? Weil sie Informantin des Verfassungsschutzes war? Anfang der 80er Jahre hatte sie mit den Verfassungsschützern geredet, so viel ist bekannt. Aber war sie schon viel früher Informantin? Am 3. Mai 1977 schon, als Seliger und Jacobs in ihrem Blut lagen?

Die Frage gibt dieser Geschichte zusätzliche Brisanz. Und für Seliger ist sie von enormer Bedeutung. Vor einiger Zeit hat er eine Information erhalten, von einem Mann, dem er fest vertraut. Der Mann behauptete, er wisse aus sicherer Quelle, dass Sonnenberg und Becker am 3. Mai beschattet worden seien. Schon bei ihrer Zugfahrt von Köln nach Singen hätten Verfassungsschützer sie beobachtet. Und in Singen natürlich auch.

„Wenn das stimmt“, sagt Seliger, „ließen die uns ins offene Messer laufen.“

Seliger sitzt in einem Café in der Singener Innenstadt, als er das erzählt. Er zielt nicht auf dramatische Wirkung bei den Sätzen, aber seinen Stadtführer-Ton, den hat er verloren.

Doch die Besonderheit liegt nicht im Ton, sie liegt in dem Umstand, dass der Staatsdiener Seliger nicht höhnisch lacht und verächtlich erklärt: Das ist kompletter Unsinn. Seliger sagt: „Ich kann es nicht ausschließen.“ Er hat zu viele Fragen zu dem Fall Becker/Buback, auf die er keine Antworten hat. „Da ist einiges erklärungsbedürftig.“ Denn für ihn ist „Becker die heiße Kandidatin als Todesschützin“. Für die Bundesanwaltschaft in ihrer Anklageschrift nicht.

Nur eines weiß Seliger sicher. „Zu uns aufs Revier sind keine Schlapphüte gekommen, uns hat niemand vorgewarnt.“ Das Revier lag damals in der Fußgängerzone, 150 Meter vom Bahnhof entfernt, 80 Meter vom Café Hanser. Das Café liegt heute zwischen Kaufhäusern wie aus der Zeit gefallen. Altmodische Stühle mit Bastverkleidung, Lampenschirme aus Großmutters Zeiten. Am 3. Mai 1977 saß die 24-jährige Becker am Fenster des Cafés, bei ihr am Tisch Sonnenberg. Er hatte einen großen Rucksack neben sich abgestellt, in dem das Gewehr steckte, mit dem Buback erschossen wurde. Frühstückszeit.

Eine Bedienung beobachtete das Pärchen. Dann schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf: Das sind doch die RAF-Terroristen Knut Folkerts und Juliane Plambeck. Folkerts galt als einer der mutmaßlichen Buback-Attentäter. Die Bedienung hetzte zum nahe gelegenen Revier, doch dort blieb der Schichtleiter gelassen. Hinweise auf Terroristen flatterten damals fast jeden Tag herein, stets Falschmeldungen. Aber weil Seliger gerade da war und Jacobs just in dem Moment zum Dienstbeginn hereinschneite, sollten die beiden eben die Pässe des Pärchens kontrollieren. „Das muss man sich mal vorstellen“, sagt Seliger heute. „Der Hinweis auf Plambeck und Folkerts ist falsch. Stattdessen treffen wir auf zwei andere RAF-Terroristen.“ Er stößt ein verbittertes Lachen aus.

Becker und Sonnenberg besaßen mehrere gefälschte Pässe und Führerscheine, Sonnenberg sogar einen gefälschten Waffenschein. Er hatte keine Ähnlichkeit mehr mit seinem Fahndungsfoto. Auch Becker erkannten die Polizisten nicht. Die Ausweise sind im Auto, behaupteten die RAF-Leute.

Warum zeigten sie nicht ihre Pässe? „Ich weiß es nicht“, sagt Seliger. „Als Fälschungen hätten wir sie auf jeden Fall nicht erkannt.“

Stattdessen lotste das Pärchen die ahnungslosen Polizisten zu ihrem angeblichen Auto. Vorbei am Revier, vorbei an Passanten. Nach ein paar Minuten zeigte Sonnenberg auf den Passat. „Da ist es.“ Gesprochen hatten die Terroristen bis dahin nichts. Erst als Seliger das Kennzeichen sah, es begann mit KN , wurde er unruhig. Die beiden hatten behauptet, sie wohnten in Stuttgart. Aber KN steht für Konstanz. Er griff zu seiner Waffe, Sekundenbruchteile zu spät. Becker und Sonnenberg hatten sich schon umgedreht und schossen.

Sechs Monate blieb Seliger dienstunfähig. Dann trug er wieder Uniform. „Was sollte ich denn sonst tun? Ich war doch bloß gelernter Schüler.“ Außerdem war Polizist sein Kindheitstraum. Aber er benötigte zehn Jahre, bis er über die Schüsse reden konnte. Er begann vorsichtig, erst sprach er mit der Familie, dann mit Freunden, dann auch mit flüchtigen Bekannten. Und jedes Mal baute er ein Stückchen mehr emotionale Distanz zwischen den Schüssen und seinem Alltag auf. Sein Kollege Jacobs redet bis heute nicht öffentlich über das Geschehene. „Es hätte viel schlimmer kommen können“, sagt Seliger. „Ich habe überlebt.“

Aber da ist jetzt dieses Thema mit den Verfassungsschützern. Er ist schwer zu sagen, wie sehr es ihm wirklich zusetzt. Offiziell sprengt selbst dieser Hinweis keine Risse in seinen Schutzschild. „Ich lasse mich dadurch nicht kaputtmachen, es ist vorbei. Und es sind nur Vermutungen.“ Ob das eine Schutzbehauptung ist, ob er aus Angst vor einem Flashback das Thema nicht zu nahe an sich ranlässt, das weiß nur er.

In einem idyllischen Dorf, ein paar Kilometer von Göttingen entfernt, wohnt in einem Reihenhaus ein Mann, für den sind es mehr als Vermutungen. Für Michael Buback ist die Schießerei in Singen ein Beleg dafür, dass Becker schon damals mit dem Verfassungsschutz kooperierte. Er hat Aktenordner auf seinem Wohnzimmertisch ausgebreitet, er zieht Zeugenprotokolle, Gerichtsunterlagen, andere Dokumente aus Klarsichthüllen. Siegfried Buback, der ermordete Generalbundesanwalt, war sein Vater.

Seit drei Jahren kämpft der Chemieprofessor Buback um die Wahrheit. Wer hat seinen Vater erschossen? Der frühere RAF-Terrorist Peter-Jürgen Boock hatte ihm 2007 unerwartet den Hinweis gegeben, der Ex-RAF-Mann Stefan Wisniewski sei wahrscheinlich der Todesschütze. Wisniewski? Der war bis dahin unverdächtig. Buback begann intensiv zu recherchieren. Die Spur Wisniewski erkaltete, inzwischen ist er überzeugt, dass Becker seinen Vater erschossen habe. Aber sie werde vom Verfassungsschutz gedeckt, behauptet Buback. Er führt viele Argumente für seine These an, es sind stichhaltige darunter. Aber eines davon lautet: „Verena Becker hatte aus nächster Nähe auf Jacobs geschossen. Sie hätte ihn töten können. Aber sie schoss bewusst daneben. Weil sie sonst als Mörderin verurteilt worden wäre.“ Wegen des Buback-Attentats wurde sie ja offiziell nicht gesucht.

Seliger verzieht den Mund bei diesem Argument. Er kennt es. „Michael Buback hat es mir auch schon gesagt. Er war mal bei mir.“ Und? „Ich glaube es nicht“, sagt Seliger dann. „Becker hat genau zwischen Arm und Kopf getroffen. Das wäre ein Kunstschuss gewesen, wenn sie dahin gezielt hätte. Das kommt vielleicht im Zirkus vor, aber nicht in so einer Situation.“ Sie habe enorm unter Stress gestanden.

Andererseits nährt Buback, der nüchterne Professor, die Zweifel, die auch Seliger umtreiben. „In vielen Punkten kann ich seine Argumente nachvollziehen“, sagt er. Die Ungereimtheiten sind der Grund dafür, dass er es nicht völlig ausschließt, der Verfassungsschutz könnte die Terroristen beschattet haben. Warum gilt denn Becker nicht als Todesschützin, wenn sie doch mit der Tatwaffe unterwegs war? Aber wenn Becker auf Buback geschossen haben sollte: Wie soll sie denn vier Wochen später Informantin des Verfassungsschutzes geworden sein? Er leidet an den Widersprüchen. „Das ist wie beim Kennedy-Mord", sagt er, „da wird auch alles reininterpretiert.“ Aber er möchte die Wahrheit wissen. Endlich.

Seliger bestellt Seelachsfilet, gleichzeitig registriert er mit schnellen Blicken, wer an ihm vorbeiläuft. Ab und zu grüßt er mit routiniertem Lächeln. Seliger ist in der Nähe von Singen aufgewachsen, er kennt hier unzählige Leute. Heimatgefühl ist ein wichtiger Teil seiner seelischen Therapie.

Natürlich hatte sich Seliger das Foto der gealterten Becker angeschaut. Aber er spürte wenig dabei, sein erster Gedanken war bloß: „Mensch, wir werden alle alt.“ Er hatte Mühe, die Bilder zusammenzubringen. Die Erinnerung an die Terroristin, die auf den wehrlosen Jacobs schießt, und dieses Mütterchen.

Plötzlich dröhnt ein Rap-Song zum Tisch. 30 Meter weiter hat ein massiger Mann mit rötlichen Haaren sein Autoradio voll aufgedreht. „Ein Bayern-München-Fan“, sagt Seliger ironisch. Er kennt ihn natürlich. Er mag keine Bayern-Fans.

Und wenn jetzt plötzlich Verena Becker auftauchte? Hier, in der Singener Fußgängerzone, nur einen Steinwurf vom Café Hanser entfernt? „Ich glaube, sie würde mich nicht wiedererkennen“, sagt Seliger. Er zeigt keine große Regung. Aber wenn nicht Becker käme? Sondern Sonnenberg? Was dann? Da wird der Blick eine Spur härter. „Ich würde hinschauen“, sagt Seliger, seine Stimme hat nun einen rauen Ton. Mehr nicht? „Nein, mehr nicht. Ich würde ihn nicht ansprechen. Das würde ich mir nicht zutrauen.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false