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Musikalischer Volksaufstand: Das Singen der Nationalhymne gehört natürlich dazu. Ob es dabei einen Unterschied macht, dass beinahe die Hälfte des Plenarsaals von der CDU-Fraktion eingenommen wird?

© dpa

18. Deutscher Bundestag: Das kleine Staatstheater

Der Bundestag konstituiert sich. Dieser Moment gehört traditionell zu den freundlichen, ja heiteren Stunden des Parlamentarismus. Hoch symbolisch ist er allemal. Etwa, als CDU und SPD gleich mal ihre Macht demonstrieren – und sich gegenseitig Posten verschaffen.

Von
  • Robert Birnbaum
  • Antje Sirleschtov

Um 13:14 Uhr ist die große Koalition perfekt. „Ich bitte um das Handzeichen“, hat Norbert Lammert gesagt, und dann haben alle Abgeordneten von CDU und CSU und SPD ihre Hand gehoben. Jetzt erst sieht man so richtig, was für ein gewaltiger Machtblock sich da bildet in diesem 18. Deutschen Bundestag.

Von ganz rechts bis fast zur Mitte des Halbrunds im Reichstagssaal drängen sich die 311 Abgeordneten der Union auf ihren blauen Stühlen. Dann quetschen sich die Grünen in einem schmalen Streifen Land, bevor eine dicke Viertelscheibe Sozialdemokratie folgt und links außen die Linke am Rand hockt.

An diesem Dienstag sind schon viele hehre Worte verloren worden über die Rechte der Opposition in Zeiten übergroßer Regierungsmehrheiten, die es unbedingt zu achten gelte, wegen der Demokratie und überhaupt. Doch in diesem Augenblick kurz nach Mittag klingen sie alle auf einen Schlag hohl. Die künftige große Koalition wird eine erdrückende Mehrheit von 504 der 631 Abgeordneten haben, und sie nutzt sie bei der allerersten schlechten Gelegenheit aus: CDU und SPD genehmigen sich je einen Posten mehr im Präsidium des Bundestags.

Eine Mischung aus erstem Klassentreffen und Staatsakt

Der Moment trübt einen Tag, der ansonsten sozusagen traditionell zu den freundlichen, ja heiteren des Parlamentarismus gehört. Der Wahlkampf ist vorbei, der Souverän hat mit dem Stimmzettel entschieden. Jetzt kommt unter der Reichstagskuppel zum ersten Mal das neu gewählte Parlament zusammen. Die konstituierende Sitzung ist infolgedessen so eine Art Mischung aus erstem Klassentreffen und Staatsakt, in jedem Falle hoch symbolisch.

Bis zuletzt hat der technische Dienst im Plenarsaal herumgeschraubt, um Stühle und Tische in Stellung zu bringen. Schon mit dieser Stellung fängt die Symbolik ja an. Über die Frage, welche Fraktion wie viele Stühle in der ersten Reihe beanspruchen darf, kann man ganze Geschäftsordnungssitzungen verbringen. Diesmal war die Sache allerdings unstreitig: Die Union hat quasi die alten Sitze der FDP geschluckt und nunmehr sieben Erstplätzler, die SPD bekommt fünf und die beiden Oppositionsparteien je zwei.

Weil sich Geometrie und Hierarchie aber nicht immer in Einklang bringen lassen, sitzt die neue Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt vor dem Grünen-Keil ein ganzes Stück nach rechts verschoben. Sie hat den CDU-Rechtspolitiker Günter Krings direkt im Nacken.

Vielleicht wird daraus in den nächsten vier Jahren mal ein Symbol, wer weiß.

Die einen rücken vor, die anderen nach hinten

Morgens um halb elf füllt sich der Plenarsaal langsam. Die Abgeordneten kommen von den üblichen kurzen Fraktionssitzungen im vierten Stock nach unten. Viele sind vorher schon beim ökumenischen Gottesdienst in der Hedwigs-Kathedrale gewesen. Auch die meisten der Ehrengäste des Tages waren dort, nur der Bundespräsident nicht. Joachim Gauck, heißt es, war es am Morgen kurzzeitig unwohl. Aber auf der Ehrentribüne im Reichstag zwischen dem Vorgänger Horst Köhler, dem Verfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle und den Altbundestagspräsidenten Wolfgang Thierse und Rita Süssmuth ist das Staatsoberhaupt wieder dabei und munter.

Unten im Saal fängt derweil das kleine Staatstheater an. Da ist zum Beispiel Angela Merkel zu sehen, wie sie einmal kurz ihrer Ex-Ministerin Annette Schavan über den Weg läuft und ihr einen vertrauten Armgriff lang etwas zuruft. Schavan sitzt diesmal ganz hinten ganz links am alleräußersten Rand der Union. Aber wenn der Armgriff nicht täuscht, rückt sie schon irgendwann wieder weiter vor. Ein anderer wird dafür nach hinten rücken. Er sitzt ganz vorne links in der ersten SPD-Reihe. Peer Steinbrück zieht dort ein so anhaltend mürrisches Gesicht, dass man glauben könnte, er hat die Wahl jetzt erst verloren. Was in gewisser Weise ja stimmt.

Merkel trägt übrigens ein knallblaues Jackett, passend zur Krawatte ihres Fraktionschefs Volker Kauder, mit dem sie sich während der ganzen Sitzung ausgiebig unterhält, weil sie noch nicht wieder auf die Regierungsbank darf. Auch ihre Minister sitzen auf ihren Abgeordnetenplätzen.

Thomas de Maizière hat morgens im Bundestagscafé noch rasch einige Akten bearbeitet. Die Leseviertelstunde in der Kantine war womöglich seine letzte Amtshandlung im Vollbesitz der Befehls- und Kommandogewalt. Am Nachmittag wird Gauck ihn und die anderen Mitglieder des Kabinetts förmlich entlassen und im gleichen Augenblick bitten, bis zur Wahl einer neuen Regierung geschäftsführend im Amt zu bleiben. Ganz grob gesprochen heißt das, dass de Maizière in der Zeit keine neuen Panzer bestellen darf, sondern bloß bereits bestellte abholen.

Machtdemonstrationen und vertrauensbildende Maßnahmen

Ins Plenum darf der Abgeordnete de Maizière aber natürlich, anders als die Kollegin Johanna Wanka. Die Bildungsministerin muss auf die Tribüne, weil sie kein Mandat hat. Die noch amtierenden FDP-Minister hätten da oben auch Platz nehmen dürfen, aber das wollte sich dann doch keiner antun. Nur einige liberale Staatssekretäre sind da, der Wehrbeauftragte Hellmut Königshaus hält seine Stellung auf dem Stühlchen in der Bundesratsbank, und Hermann Otto Solms ist gekommen, der lange Jahre Vizepräsident dieses Hauses war. Irgendwie schräg, das Ganze, sagt Solms, wenn man ihn nach seinen Gefühlen fragt: „Dass jetzt auch noch die Linken in unseren Fraktionssaal ziehen!“ Noch schräger fände er es vermutlich, wenn er wüsste, dass die FDP-Stellwand und das Pult mit dem FDP-Logo vor diesem Fraktionssaal immer noch herumstehen, als könnten die Dinge nicht glauben, dass es einen Bundestag ohne Liberalen-Abgeordneten wirklich geben kann.

Es gibt ihn aber. Dafür sind jetzt 230 andere Neue dabei, ein Drittel des Hauses. Viele machen Fotos von sich selbst, und die Altgedienten blättern im vorläufigen Verzeichnis der Abgeordneten, das praktischerweise schon bebildert ist. Peter Gauweiler hat neulich erzählt, dass er im Fraktionssaal jeden Unbekannten als Kollegen begrüßt, vorsichtshalber. Mehr Frauen als bisher sitzen im Parlament, mehr Junge, mehr Menschen mit Vorfahren aus anderen Ländern, weniger Alte.

Norbert Lammert kann strahlen

Heinz Riesenhuber findet das insofern in Ordnung, als es ihm eine begehrte Ehre verschafft. Um Punkt elf Uhr nimmt der Mann mit der Fliege Platz auf dem erhöhten Sitz des Parlamentspräsidenten. „Ist jemand früher geboren als ich?“ fragt er. Als alle kichern, schiebt er nach: „... hier im Haus?“

Nein, den 1. Dezember 1935 kann keiner unterbieten. Der frühere Forschungsminister war vor vier Jahren schon Alterspräsident. Er leitet die erste Sitzung bis zur Wahl des neuen Bundestagspräsidenten und muss obendrein eine Rede halten. Riesenhubers Ansprache erinnert an eine vorgezogene Regierungserklärung, weil der CDU-Mann die Herausforderungen dieser Legislaturperiode umreißt, vom demografischen Wandel bis zur Forschungsförderung. Aber er hat auch eine kleine Mahnung an den eigenen, den Berufsstand des Politikers parat: „Unser Ansehen in der Öffentlichkeit ist noch nicht oberhalb von dem der Bischöfe, gell? Daran müssen wir noch arbeiten.“ Riesenhubers Wahlkreis, dies nur für die Nicht-Hessen hinzugefügt, grenzt geografisch direkt an Limburg.

Doch oberster Mahner ist an diesem Tag ein anderer. Es ist halb zwölf, als Volker Kauder namens der Unionsfraktion den Professor Doktor Norbert Lammert als Bundestagspräsidenten vorschlägt. Eine Stunde später, nachdem jeder einzelne Abgeordnete namentlich aufgerufen wurde und sein Stimmkärtchen in die Wahlurne geworfen hat, lächelt Lammert fein. 591 von 625 gültigen Stimmen, praktisch das gesamte Haus hat ihn gewählt. Lammert dankt seiner Fraktion, dass sie ihn vorgeschlagen habe, „obwohl sie weiß und damit rechnen muss“ – er kommt erst mal nicht weiter, weil auf der linken Seite des Hauses zustimmender Beifall aufbrandet – „dass meine Betätigung und die damit verbundenen Aufgaben in den eigenen Reihen nicht immer stürmische Begeisterung auslöst“.

„Wir sind alle gewählt und nicht gesalbt.“

Man kann den Satz auch als Versprechen lesen. Lammert löst es umgehend ein, wenn auch der Würde des Tages geschuldet ohne Schärfe. Er mahnt die Abgeordneten zur Verantwortung und Bescheidenheit: „Wir sind alle gewählt und nicht gesalbt.“ Und er mahnt die übergroße Mehrheit, die sich abzeichnet: Es mache die eigentliche Kultur der parlamentarischen Demokratie aus, dass die Mehrheit das Sagen habe, wobei auch große Mehrheiten nicht verfassungswidrig seien. Die Minderheit aber habe „eigene Rechtsansprüche, die weder der Billigung noch der Genehmigung der Mehrheit“ bedürften.

Das ist eigentlich deutlich. Es nützt aber nicht viel.

Die erste Amtshandlung der Mehrheit besteht darin, aus den traditionellen fünf Stellvertretern des Präsidenten sieben zu machen. Die Begründungen, von den Fraktionsgeschäftsführern vorgetragen, klingen nahezu edel, von wegen Arbeitsbelastung und starkes Parlament. Die Opposition hört mit verschränkten Armen zu. SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier hat schließlich am Montag aus Versehen die Wahrheit verraten: Es gehe um „Augenhöhe“ der SPD mit dem großen Partner CDU/CSU.

„Mannomann“, ruft Grünen-Fraktionsgeschäftsführerin Britta Haßelmann der bisherigen Mit-Opposition zu, „der Schalter ist aber schnell umgelegt, oder?“ Ihre Linken-Kollegin Petra Sitte schüttelt den Kopf: „Kleingeistig“ sei diese Machtdemonstration; eine vertrauensbildende Maßnahme sehe anders aus.

Die große Koalition sieht das offenkundig anders. Schon vor den Koalitionsverhandlungen zwei neue Posten gemeinsam ausgekungelt – wenn das keine vertrauensbildende Maßnahme ist!

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