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1989: Als Kohl zur Einheit aufrief

Je näher sie der Frauenkirche kommen, desto stiller wird es. In der DDR rollten am 19. Dezember 1989 Sonderzüge, in West-Berlin wusste man es gerüchteweise: Helmut Kohl hält in Dresden eine Rede. Würde er den Wunsch vieler Menschen laut aussprechen? Er zögerte lange, doch dann benennt er das Ziel: die Einheit.

Die beiden Seitenwände recken sich gen Himmel wie zwei offene, flehend erhobene Hände. Dazwischen ein viele Meter hoher, massiger Trümmerberg, in Jahrzehnten von Grün überwuchert. Birken. Die wachsen überall, wenn Menschen aufgegeben haben oder wenn sie aufgegeben wurden. Birken wachsen auf verlassenen Friedhöfen, auf von Granaten zerwühlten Schlachtfeldern, auf den geschwärzten Mauerresten zerbombter Kirchen. Sie sehen so leicht aus. Deshalb ist ihr Anblick so schwer zu ertragen. Man weiß ja, in welch leidgetränktem Boden ihre weißen Stämme wurzeln.

Luthers Denkmal, das haben sie wieder aufgestellt. Die Dresdner Frauenkirche aber blieb Ruine nach dem Luftangriff in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945, als Mahnmal für die sinnlosen und aberwitzigen Zerstörungen des Krieges, so, wie die Außenmauern der Kathedrale von Coventry oder die ausgeglühte Stahlkuppel der Handelskammer von Hiroshima. Und doch schließt sich da ein Kreis, wenn ausgerechnet an diesem Platz, an diesem späten 19. Dezember 1989, Menschen zusammenkommen, die die Hoffnung hierher getrieben hat. Die Hoffnung, die dunklen Wolken, die seit dem Januar 1933 zumindest über diesem Teil Deutschlands fast pausenlos für Jahrzehnte lagen, mögen endlich, endgültig nach dieser endlos scheinenden Zeit, weichen.

Die Hoffnung gründet sich an diesem 19. Dezember auf einen Mann. Dass dieser Mann etwas Entscheidendes sagen wird. Etwas auf dem Boden der DDR aussprechen wird, das zu sagen wenige Wochen zuvor noch Haft und Schlimmeres bedeutet hätte. Helmut Kohl weiß, was vor ihm liegt. Dass dies die schwierigste Rede seines Lebens werden wird. In seinen Erinnerungen schreibt er, er habe, als das Zusammentreffen mit dem DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow für den 19. Dezember in Dresden ausgemacht war, gar nicht an eine öffentliche Rede gedacht. Mag sein, dass ihn sein Erinnerungsvermögen täuscht. Vielleicht waren die Menschen im Osten Deutschlands zu diesem Zeitpunkt aber schon voller Sehnsucht, während die Politiker noch darüber nachdachten, was im Rahmen der alliierten Verantwortlichkeiten für Deutschland eigentlich kurzfristig völkerrechtlich möglich war.

In der DDR sind an diesem 19. Dezember jedenfalls bereits seit dem frühen Morgen Sonderzüge und Busse unterwegs nach Dresden. Und von einer Demokratie ist die DDR zu diesem Zeitpunkt noch ziemlich weit entfernt. Wenn hier ein Sonderzug fährt, dann will die Einheitspartei der DDR, die SED, das so.

Auch in West-Berlin hatten die internationalen journalistischen Beobachter des SPD-Parteitages im Internationalen Kongresszentrum am Tag zuvor nur zwei Themen: die Rede Willy Brandts und das Gerücht, Helmut Kohl würde am Abend des 19. Dezember vor der Ruine der Frauenkirche eine Rede halten.

Klar war, dass die Korrespondenten am Morgen des 19. Dezember zu Hunderten nach Dresden reisen würden. Denn dass eine Rede des Bundeskanzlers an diesem Ort an der Sehnsucht der Ostdeutschen nach mehr Gemeinsamkeit in der noch geteilten Nation vorbeigehen würde, das konnte sich niemand vorstellen.

Natürlich gab es in diesen zwei Tagen keine wie auch immer geartete politische Arbeitsteilung zwischen Helmut Kohl und Willy Brandt. Aber gemeinsame Tonlagen, die gab es schon. Willy Brandt dämpft erst, als er warnt, man dürfe sich auf keinen Fall zu etwas hinreißen lassen, was Konflikte mit der sowjetischen Besatzungsmacht zur Folge haben könne. Genau das sagt Hans Modrow einen Tag später im Vier-Augen-Gespräch zu Helmut Kohl. Auch den plagen Sorgen: „Jeder falsche Zungenschlag wäre sofort in Paris, London oder Moskau als nationalistisch ausgelegt worden“, notiert er später. Und er rechnet mit Schlimmerem: dass die Menschen am Abend im Überschwang der Gefühle plötzlich die erste Strophe der Nationalhymne singen könnten. Er versucht, einen Kirchen- und Posaunenchor zu aktivieren, der mit einem kräftigen „Nun danket alle Gott“ das großdeutsche Gespenst hinwegsingen und -blasen könne.

Das mit dem Chor klappt nicht. Es erweist sich auch als unnötig. Diese Revolution bleibt friedlich. Als Brandt in Berlin am Nachmittag des 18. Dezember seine Zuhörer im Berliner ICC beschwört: „Wir können helfen, dass zusammenwächst, was zusammengehört, auch wenn nicht alles nächste Woche nachmittags um sechs passiert“, ahnen die Zuhörer nicht, dass sie gar nicht bis nächste Woche warten müssen – dass „nächste Woche nachmittags um sechs“ bereits 24 Stunden später Realität sein wird.

Der Korrespondent fährt am Morgen des 19. Dezember nach Dresden. Als er am Mittag sein Zimmer im Hotel Astoria bezieht, wird ihm bereits bedeutet, sein Auto besser stehen zu lassen und die drei Kilometer zur Ruine der Frauenkirche zu Fuß zu gehen. Es sei viel los in der Stadt, sagt der Portier beziehungsvoll, als er um den Reisepass des Gastes bittet. Der landete in der DDR wie in allen Ostblockländern über Nacht bei den Sicherheitsorganen. Aber diesmal fügt der Mann hinter dem Tresen fast entschuldigend hinzu: „Das ist bestimmt das letzte Mal gewesen, jetzt wird ja alles anders.“

Ebenfalls am Morgen ist Helmut Kohl in Dresden eingetroffen. Auf dem Flugplatz Dresden-Klotzsche landen sie, wie sich sein Berater Horst Teltschik erinnert, auf einer holperigen Betonpiste. Ministerpräsident Modrow hat den Kanzler erwartet, gemeinsam fahren sie zum Hotel Bellevue. Die fast zehn Kilometer bis dorthin sind die Straßen von jubelnden Menschen gesäumt. Die beiden Politiker überbrücken die Spannung und unterhalten sich über ihre Elternhäuser. Aus kleinen Verhältnissen kommen sie beide, das verbindet irgendwie. Bei den Gesprächen der Delegationen hinter verschlossenen Türen habe sich die östliche Seite zunächst verkrampft verhalten, berichten sowohl der Kanzler als auch sein Berater Jahre später.

Helmut Kohl hatte in seinem Zehn-Punkte-Plan von 27. November eine Konföderation beider deutscher Staaten nicht gewollt. Das wäre für ihn ein Zusammengehen zweier weiter souveräner Staaten geworden, er dachte, die tatsächliche Entwicklung vorausahnend, an eine Föderation, mit immer mehr gemeinsamen Institutionen. Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker vorübergehend als Staatsoberhaupt beider Deutschlands – das war so eine Vision dieser Tage, freilich nicht von Helmut Kohl.

So viel Einvernehmen will Modrow – noch – nicht. Aber man einigt sich an diesem 19. Dezember 1989 darauf, am 22. Dezember gemeinsam einen Übergang am Brandenburger Tor zu öffnen. Für Modrow ist das ein verzweifelter Akt der Gesichtswahrung, dass er, der DDR-Regierungschef, in dieser wirklich chaotischen Phase des täglichen Wandels, in einem Punkt, dem der Grenzsicherung, noch Herr des Verfahrens bleiben kann und die Mauer am Brandenburger Tor dann nicht bei Nacht gestürmt wird. Beim öffentlichen Zusammentreffen im Rahmen einer Pressekonferenz wenig später im Kulturzentrum ist die Atmosphäre zwischen Kohl und Modrow tatsächlich viel entspannter, als Kohl dies in seinen Erinnerungen berichtet.

Dann der Abend. Es liegt eine unwirkliche Stimmung über der Stadt. Es ist viel zu warm für Mitte Dezember, fast zehn Grad. Kaum Autos fahren auf den Straßen, aber die Gehwege und die Fahrbahnen sind voller Menschen. Alle streben in eine Richtung, und je näher man dem Platz kommt, auf dem die Ruine der Frauenkirche steht, umso stiller wird die Menschenmenge. Nur die unmittelbare Umgebung der Ruine ist durch Scheinwerfer hell erleuchtet. Der Rest des Platzes bleibt im Halbdunkel. Ob sich da 20 000 oder 100 000 Menschen versammelt haben, wird sich nicht mehr klären lassen, es ist auch unerheblich. Nur dass die Menschenmasse unübersehbar war, wird jeder bestätigen, der dabei war. Und dass diese Menschen keine Revolution im Sinn hatten, keinen Krawall, sondern nur ein Ziel vor Augen.

Helmut Kohl vermeidet es sehr lange, dieses Ziel zu erwähnen, es beim Namen zu nennen. Er will alles unterlassen, was in dieser hoch emotionalisierten Menge zu einem Ausbruch der Leidenschaften hätte führen können. Er tastet sich an das Wort heran, spricht von der Bewunderung für die Leistung der Bürger, für die friedliche Revolution. Dass die Bundesregierung, dass die Bundesrepublik das Recht auf Selbstbestimmung für die DDR respektiere. Und dass man gemeinsam den Weg in die deutsche Zukunft schaffen werde. Dass die DDR eine frei gewählte Regierung haben werde. Und fügt dann doch hinzu: „Mein Ziel bleibt, wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation.“ Es ist der Satz, auf den alle gewartet haben.

Der Abend des 19. Dezember 1989 in Dresden vor der Ruine der Frauenkirche wird, sechs Wochen nach der Maueröffnung in Berlin, so etwas wie ein Treibsatz der in Bonn und Berlin gestalteten Politik. Die hat von da an nur noch dieses Ziel – ein Deutschland. Und das waren die Zeichen: dass Kohl immer wieder von Beifallsstürmen unterbrochen wird, wenn er über die Zukunft einer demokratischen DDR spricht. Dass die Sprechchöre lauter und lauter werden: „Deutschland, einig Vaterland!“. Dass den größten Lacherfolg ein einzelner junger Mann hat, der mit einem handgemalten Schild durch die Menge geht: „Der nächste Sozialismus bitte ohne mich!“ Dass es kaum jemanden gibt, der an diesem Abend keine Tränen in den Augen hat.

Auf dem Rückweg ins Hotel sagt Helmut Kohl zu seinen Begleitern: „Ich glaube, wir schaffen die Einheit.“ Und Hans Modrow? Das Ergebnis stellt er sich etwas anders vor, ja.

Aber als er 20 Jahre später, vergangene Woche in Berlin, erneut nach der Macht jener Rede gefragt wurde, gab er zu: Ja, dass es in Richtung Einheit geht, das habe auch er damals gespürt.

Gerd Appenzeller

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