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Die olympische Bobbahn von 1984 auf dem Trebevic-Berg in der Nähe von Sarajevo.

© dpa

20 Jahre Abkommen von Dayton: Entschädigt Bosnien!

Bosnien-Herzegowina ist ein dysfunktionales Land, seine größte Wunde ist noch offen: Überfällig ist ein Fonds für die Opfer des Genozids. Ein Essay.

Ein Essay von Caroline Fetscher

Auch dieses Jahr ging im Sommer wieder das alljährliche Erinnern an die Opfer des Genozids von Srebrenica vorüber, mit weltweitem Trauern und Bedauern. Angela Merkel hatte kurz vor dem Gedenktag Sarajewo besucht, am Tag selber sprach Jordaniens Königsgattin Trostworte, ein serbischer Staatsmann wurde mit Steinen beworfen. Der 11. Juli war der zwanzigste Jahrestag des Massakers von Srebrenica. Dieser 14. Dezember ist der zwanzigste Jahrestag des Abkommens von Dayton, das den heißen Krieg um Bosnien-Herzegowina beendete. Sein kalter Krieg dauert an.

Weiterhin werden Massengräber gefunden

Wie seit fast zwei Jahrzehnten wurden diesen Sommer wieder exhumierte Opfer des Genozids unter weißen Marmorstelen bestattet. 136 Tote waren es dieses Mal. Massenbestattung ist das schwarze Sommerritual in Bosnien, Jahr für Jahr. Für viele Exilanten ist die Zeremonie Teil ihrer Sommerferien. Sie alle hören die internationalen Appelle zur Versöhnung an die Adresse derer, die auf dem Boden der politischen Verwerfungen weiterleben.

Im Juli 2016 werden westliche Würdenträger angesichts neuer Särge wieder ähnliche Worte sprechen. Denn die Internationale Kommission für vermisste Personen (ICMP) arbeitet in ganz Bosnien und Herzegowina weiter. Weiterhin werden Massengräber gefunden und Opfer exhumiert. Ihre Überreste lagern in Kühlhäusern, wo Experten mit Mundschutz und Nylonhandschuhen die genetischen Daten der Gebeine mit denen der Lebenden vergleichen. 22 268 Angehörige von Opfern haben DNA-Proben abgegeben, anhand derer die Toten identifiziert werden. Nahezu 7000 der vermuteten 8000 Ermordeten haben so ihre Namen und Grabstätten erhalten. Srebrenicas überlebende Bewohner sind verteilt auf alle Kontinente – Srebrenica heute ist ein um den Globus versprengter Ort. Besonders viele Überlebende haben sich etwa in St. Louis im US-Bundesstaat Missouri niedergelassen, wo eine Art Little Bosnia entstand. Sie wohnen auch in Berlin oder Stockholm, Melbourne oder Toronto. Und in Bosnien selber. Dort sortieren sich die ethnisch-religiösen Gruppen weiterhin nach Mustern, die sich den Zuschreibungen durch nationalistische Eliten verdanken: als „bosnische Muslime“, „katholische Kroaten“ oder „orthodoxe Serben“. Der Nachwuchs besucht je unterschiedliche Schulen, lernt je unterschiedliche Versionen der Geschichte. Ihre Eltern wählen „ethnische“ Parteien, und diese Parteien betreiben Klientelismus aller Art. Tragfähige Sozialsysteme fehlen ebenso wie ein politisch gemeinsam bewirtschafteter Raum.

Das liegt nicht allein daran, dass die Souveränität von Bosnien und Herzegowina noch eine gestundete ist. Über den Staat wacht der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina (Office of the High Representative, kurz OHR) als Supervisor, derzeitiger Amtsinhaber ist der österreichische Diplomat Valentin Inzko. Aufgabe des OHR ist das Umsetzen des Abkommens von Dayton, das 1995 die fragile Föderation Bosnien und Herzegowina ins Leben rief. Dayton, unter Führung des US-Vermittlers Richard Holbrooke verhandelt, brachte Frieden. Dayton war aber auch ein auf kurze Frist angelegter Kompromiss mit den damaligen Machthabern, Serbiens Slobodan Milosevic, Kroatiens Franjo Tudjman und Bosniens Alija Izetbegovic. Mittel- und langfristig wirkt das System Dayton dysfunktional, und kaum ein demokratischer Politiker, gleich welcher Couleur, leugnet das heute noch. Doch die politische Paralyse dauert an. Aus Protest gegen den „illegalen Oktroi!“ des OHR, geltendes Gesetz auf Bosniens Serbenrepublik anzuwenden – die durch Dayton entstandene „Republika Srpska“ – mobilisierte deren Parlament einige Tage nach den diesjährigen Gedenkfeiern für Srebrenica eine Initiative für ein Referendum. Das OHR reagierte lediglich mit einer Pressemitteilung, einer Warnung vor der Vertiefung der Krise.

Alle leugnen ihre Mitschuld

Daytons Schlüsselfehler, das hatte auch Holbrooke später eingeräumt, war es, die „ethnischen Säuberungen“ durch serbische Milizen im Kern festzuschreiben. Und ethnischen Egoismen setzt bis heute auch das Amt des Hohen Repräsentanten, derzeit eine Behörde mit 110 Mitarbeitern, wenig entgegen. Das Budget des OHR für 2015/16 beträgt immerhin 6,273 Millionen Euro – in einem Land, dessen Durchschnittslohn bei 425 Euro im Monat liegt. Doch der supranationale Apparat, gedacht als Reform- und Demokratie-Assistent, verwaltet vor allem die Spaltungen, die Dayton schuf. Ein Symptom dafür ist das absurde Übersetzenlassen aller OHR-Dokumente ins Bosnische, Kroatische wie Serbische – eine Farce, da sich alle Sprecher mühelos verstehen. Am UN-Tribunal für Ex-Jugoslawien in Den Haag heißt das frühere Serbokroatisch heute schlicht „BCS“, Bosnian-Croatian-Serbian – nur nationalistische Hardliner bemäkeln das.

Während beim OHR ein unhaltbarer Status quo gestützt wird, warten die Überlebenden und Angehörigen der Opfer der Massenmorde in Srebrenica vom Juli 1995 immer verbitterter auf Entschädigungen. In der Mehrzahl sind die Überlebenden Frauen, ihre damals noch kleinen Kinder und andere Angehörige, darunter Greise. Einige der Witwen und Mütter von Srebrenica haben sich organisiert. Einige Überlebende haben per Sammelklage versucht, ihr Recht auf Kompensation zu erstreiten. Drei oder vier hatten damit minimalen Erfolg. In ihrer überwältigenden Mehrzahl blieben die Überlebenden unentschädigt und leben in Armut. Ihre prekären Existenzen jedoch mausern sich zum Kapital Dritter, zum Kapital demokratiefeindlicher Kräfte. Auch wenn es exakte Statistiken nicht gibt, zu beobachten ist, dass sich mehr und mehr von Bosniens Muslimen – lange Zeit die liberalsten, westlichsten und weltoffensten Muslime Europas – radikalisieren. Nicht nur darum ist es Zeit, die Opfer des größten Massenmordes in Europa nach 1945 endlich zu entschädigen. Großzügig zu entschädigen, unbürokratisch, so bald als möglich. Es ist ein Gebot der Humanität wie der weltpolitischen Raison.

Überdimensionierte Kuppeln der Gotteshäuser

Längst reichen die verarmten Überlebenden das traumatische Material ihrer Biografien an die nächste Generation weiter. Längst verbreiten sich Verschwörungstheorien, wonach der Westen 1995 nur einen muslimischen Staat auf europäischem Boden verhindern hatte wollen und daher Hilfe versagt habe. Schleichend wird „Srebrenica“ bei Islamisten zu einer Chiffre, mit der sich westliche Demokratien als antiislamisch denunzieren lassen, werden aus den Witwen des Genozids von Srebrenica die unfreiwilligen Märtyrerinnen einer Bewegung.

In dem Maß, in dem die internationale Gemeinschaft die Opfer ignoriert und das Gedenken entpolitisiert, wächst die politische Instrumentalisierung des Ortsnamens „Srebrenica“ und der Ereignisse von 1995. Während des Bosnienkriegs war die Solidarität arabischer oder türkischer Glaubensgenossen eher karg. Seither ist vieles im Wandel, suchen immer mehr schlichte, von unendlichem Verlust erschütterte Frauen aus einer agrarischen Community Trost im Glauben, in der Religion. Den Haags Richter hielten für erwiesen, dass das gezielte Ermorden der Väter, Brüder, Ehemänner und Söhne aus einer patriarchal organisierten Gesellschaft das Rückgrat herauslösen sollte, ihr den Halt wegnehmen. Für die überlebenden Frauen und Kinder war der nächste, beste Traumatherapeut allemal der Imam. Hier haken radikale Islamisten ein.

Bosnien wirkt heute befriedet, und nur gelegentlich wird in westlichen Medien darüber berichtet, dass Saudi-Arabien, Kuweit oder die Türkei in Bosnien Moscheen und Koranschulen bauen. Wie seltsame Ufos wölben sich die überdimensionierten Kuppeln mancher dieser Gotteshäuser in den Himmel über Bosniens verarmte Ortschaften. Familien, die Kinder in islamistische Schulen schicken, sollen dafür angeblich sogar Geld erhalten, anstatt Schulgeld zahlen zu müssen.

So und ähnlich werden die Situationen erzählt: Die Witwe eines ermordeten Bauern aus Srebrenica, dem Schock und Grauen entronnen, hat vier, fünf Kinder alleine großgezogen, von denen drei arbeitslos sind – wie 60 Prozent der bosnischen Jugendlichen. Die Frau lebt von einer minimalen Armenrente, kann Medikamente nicht bezahlen, leidet unter den typischen Schuldgefühlen der Traumatisierten und hadert mit der Welt. Da verspricht ein frommer Mann aus dem fernen Orient, dass sich das Los wendet, sobald die Familie sich strikt an die Gebote seiner Sekte hält. Ihr ältester Sohn erhält ein Stipendium zum theologischen Training in einem arabischen Staat. Er kehrt zurück, radikalisiert. Sein Arabisch und seine scharfe Rhetorik schüchtern den örtlichen Imam ein. Ein jüngerer Bruder ahmt den weitgereisten Älteren nach. Ihre geplagte Mutter stilisieren sie jetzt zur Heldin, Märtyrerin.

Je mehr sie schon als Heranwachsende von den Massakern erfahren hatten, desto stärker hatte ihnen das Grauen gedämmert. Jetzt konstruierten sie retroaktiv einen Sinn. Sie suchen Ventile für ihre Wut: Alle Welt hatte weggesehen, niemand Wiedergutmachung angeboten. Die UN, Amerika, Europa, Serbien – alle leugnen ihre Mitschuld. Bosnien liegt in Lethargie darnieder, mit der Hymne und Flagge des elenden, durch Dayton gebastelten Landes will man sich nicht identifizieren. Serbien, für sie nur das Land der Täter, hat heute bessere Aussichten auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union, als das Nachkriegsarmenhaus, in dem die Söhne der Witwe hier leben. Eine internationale Verwaltung alimentiert sich selber sowie ein paar privilegierte Einheimische. Wozu? Warum? Der Zorn ist überbordend. Er wird nur noch nicht „im Westen“ wahrgenommen.

Sie geloben die „Wiedereroberung von Srebrenica“

Im Juni 2015 verbreiteten Dschihadisten des „Islamische Staats“ ein Video mit der Ankündigung, das „Kalifat“ auf die Staaten Ex-Jugoslawiens auszuweiten. Junge Männer, die sich „Abu Jihad Al-Bosni“ oder „Salahuddin Al-Bosni“ nennen, rufen darin Muslime in Bosnien, Albanien, Mazedonien und dem Kosovo zu Waffengewalt und Terrortaten auf. Sie geloben die „Wiedereroberung von Srebrenica“ und „Rache an den Ungläubigen“. Etwa 200 junge Bosnier sollen sich bereits der Terrormiliz „Islamischer Staat“ angeschlossen haben, darunter viele Kriminelle, wie Vlado Asinovic, ein bosnischer Terrorexperte, Ende November dem Deutschlandfunk erklärte. Verurteilt wurden sie wegen Menschen- und Drogenhandel, Waffenschmuggel, Raubüberfällen oder Gewalttaten in der Familie, und der „IS“ verspricht ihnen, sie könnten ihre Schuld im Dschihad sühnen. Der in Wien forschende bosnische Politologe Vedran Dzihic sieht „in der gesamten Region Tendenzen zur Radikalisierung“. Der Islamismus biete einer verunsicherten Jugend einfache Lösungen und Slogans über moderne Kommunikationsmittel, warnt er.

Es ist politisch sinnvoll, symbolisch wichtig, pragmatisch richtig und moralisch schlicht zwingend, dass die Angehörigen der Opfer des Genozids in Bosnien entschädigt werden. Über die Entschädigung hinaus ist es ein Schritt zur Prävention, zum Eindämmen wachsender Bitterkeit und Radikalisierung, nicht allein in Bosnien und Herzegowina – wo darüber hinaus dringend die politische Courage für eine Verwaltungsreform gebraucht wird, die die ethnischen Strukturen der knapp vier Millionen Einwohner mittelfristig lockert und langfristig löst.

Aber, wird der Einwand gegen die Entschädigung lauten, was, wenn dann alle anderen Opfer aus Bosnien ankommen? Ja. Sie werden ankommen. Ja, auch für sie wird es vergleichbare Angebote geben müssen, zunächst für die Überlebenden und Angehörigen der übrigen „Schutzzonen“ der UN, die zu Schlachtfeldern wurden. Es wird diese Entschädigungen geben müssen. Und es wird um hohe Summen gehen, mindestens so viele Millionen, wie wir im Augenblick für einen ein paar Monate nicht eröffneten Flughafen ausgeben. Diese Stiftung wird kaum auf bürokratischem, rein offiziellem Weg zustande kommen können, sondern nur über eine privat organisierte „Stiftung zur Entschädigung der Opfer von UN-Schutzzonen“. Einzahlen können dann die Institutionen – der Sozialfonds der EU, die Entwicklungsministerien, die Vereinten Nationen. Doch auf deren eigene Initiative würden die Opfer so lange warten wie die Zwangsarbeiter. Oder noch länger. Oder immer. Das ist den Überlebenden nicht zuzumuten. Und es wäre politischer Irrsinn. Der Zahltag war schon da. Schon lange. Gestundet haben uns die Opfer unsere Schulden. Bis zum nächsten Jahrestag, bis „Srebrenica 2016“, muss eine Stiftung stehen.

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