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Seit 20 Jahren gibt es jetzt die Rechtschreibreform.

© dpa/dpaweb

20 Jahre Rechtschreibreform: Es geht um mehr als um „dass“ oder „daß"

Denken und Sprache, die unsere Identität ausmachen, hängen unauflöslich zusammen. Schärfe, Klarheit, Ausdrucksvermögen brauchen ein Mindestmaß an Form. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Peter von Becker

So schnell verfliegen zwanzig Jahre. 1996 kam das erste Smartphone und begann in Deutschland die Rechtschreibreform. Das eine gehört für die meisten längst zum alltäglichen Standard – und die Schlachten um „dass“ oder „daß“, um „Stengel“ oder „Stängel“ sind längst geschlagen. Zeitungen und literarische Verlage haben wie auch der Duden meist Kompromisse geschlossen. Manches bleibt wohl weiter unklar: Warum schreiben wir Orthografie und Fotografie, obgleich es dann eigentlich auch „Filosofie“ heißen müsste? Sieht halt gar zu doof aus. Und statt „greulich“ soll es schriftsprachlich nur noch „gräulich“ geben, ohne Unterschied, ob ein Grauen oder der Farbton Grau gemeint ist.

Egal (oder nicht). Seit inzwischen zehn Jahren gilt in den Schulen die gemäßigte, weil ihrerseits wieder reformierte Reformrechtschreibung. Die heutige Sorge freilich betrifft nicht die Details bestimmter Schreibweisen, sondern die grundlegende Kompetenz junger Leute, überhaupt noch lesen, komplexere Texte verstehen und sich dazu sprachlich, das heißt auch: schriftlich angemessen, äußern zu können. Was jedoch ist, apropos angemessen, hierbei das Maß?

Dieser Tage kann man in der Berliner Verlagsreihe „Die Andere Bibliothek“ in zwei schönen Bänden Eduard Engels „Deutsche Stilkunst“ wiederentdecken. Nach 85 Jahren. Denn Engels einstiges Standardwerk war zuletzt 1931 in der 31. Auflage erschienen, später haben die Nazis den jüdischen Autor verfemt und vergessen gemacht. Engel schrieb im Kapitel „Sprachschulmeisterei“: „Gemeinsam ist allen Sprachschulmeisterern die Taubheit gegen das ewig fließende, ewig sich wandelnde Leben der Sprache im Munde lebendiger redender Menschen.“

Es geht nicht um richtig oder falsch

Darum geht es in der gesprochenen und geschriebenen Sprache ja auch. Sie ist im Fluss, sie verändert sich, zumal in Zeiten des Internets, der Kommunikation mittels Smartphone und durch den globalen Austausch mit anderen Kulturen. Just vor Beginn der Rechtschreibreform hatte der Schriftsteller Feridun Zaimoglu schon mit seinem Buch „Kanak Sprak“ das Umgangsidiom der jüngeren Deutschtürken mit zur literarischen Kunstsprache erhoben. Und soeben legt der in Tel Aviv und Berlin heimische israelische Autor Tomer Gardi seinen Roman „Broken German“ vor, der in Stil und Rechtschreibung ein buchstäblich gebrochenes Migranten-Ausländerdeutsch zu einer anrührend witzigen Sprachmelodie neu zusammenfügt. Das kann Leser und Kritiker entzücken, wird einen puristischen Deutschlehrer indes verwundern.

Ob sich nun die Fähigkeit, die eigene Sprache lesen und schreiben zu können, unter Kindern und Jugendlichen drastisch verschlechtert oder gelinde verbessert, wird von Studie zu Studie unterschiedlich beurteilt. Doch dokumentieren die neuen Medien mit den unzähligen Äußerungen der Netzgemeinde(n) vielfach eine Unfähigkeit, präzise Sätze mit mehr als nur lautmalerisch angedeuteten Begriffen zu bilden.

Hierbei soll es nicht schulmeisterlich um „richtig“ oder „falsch“ gehen. Nur darum: Denken und Sprache, die unsere Identität ausmachen, hängen unauflöslich zusammen. Schärfe, Klarheit, Ausdrucksvermögen brauchen aber ein Mindestmaß an Form. Deshalb sprechen, schreiben, lesen wir – und sollten es weiter können: Ohne unser Hirn, wie schon beim Kopfrechnen, bloß an computerisierte Hilfen und Schirme zu delegieren.

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