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25 Jahre nach dem Mauerfall: Deutschland hat seine neue Rolle gefunden

Der Mauerfall ermöglichte die Neuordnung Europas. Dass die Welt heute voll Erwartung - nicht voll Sorge - nach Deutschland blickt, ist auch ein Triumph jener, die die Mauer zum Einsturz brachten. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Symbole machen komplexe Sachverhalte leichter fassbar. Der Satz „Schwerter zu Pflugscharen“, den der Bürgerrechtler und Pfarrer Friedrich Schorlemmer 1983 auf dem Evangelischen Kirchentag in Wittenberg in die Tat umsetzen, schmieden ließ, war in der DDR verboten. Dennoch stand auch er am Anfang jenes Prozesses, an dessen Ende sich die DDR mit dem 9. November 1989 selbst abzuschaffen begann. Heute erinnern 8000 weiße Ballons, die am Sonntag in den Himmel über Berlin aufsteigen, an den Verlauf der Mauer in der Stadt – auch dies ein Sinnbild dafür, wie sich eine Gewaltherrschaft in nichts auflöst, wenn ihre Stunde geschlagen hat. Dass die Öffnung der Mauer gleichbedeutend mit Freiheit für die Deutschen war, begriff an diesem Abend jeder. Dass sie auch am Anfang einer Neuordnung Europas und der Zuweisung einer völlig neuen Rolle für Deutschland in der kontinentalen Politik stand, ahnte kaum einer.

Deutschland ist Brücke nach Russland

Denn was sich heute in der Mitte Europas als Land herausgebildet hat, ist nicht eine Neuauflage jener verspäteten und auch schon deshalb pubertär-großsprecherischen Nation der Nach-Bismarck- Ära. Es ist auch nicht das von Politikern wie Maggie Thatcher und François Mitterrand als drohendes Gespenst eines Vierten Reiches befürchtete Großdeutschland Nummer zwei. Nein, es ist ein Brückenpfeiler zwischen dem Nord-, West- und Südeuropa der Europäischen Union vor 1989 und den Staaten Ost- und Mitteleuropas, die heute ebenfalls dieser Union angehören.

Es ist außerdem ein Anker für ein Europa, das sich seiner selbst, seiner Macht und Ohnmacht, oft nicht bewusst ist. Und es ist, weiter noch, Brücke in Richtung Russland, wird in die Verantwortung genommen für den Dialog mit einer einstigen Weltmacht, die immer noch über hohes zerstörerisches Potenzial in jeder Beziehung verfügt, aber dennoch berücksichtigt werden muss in einem europäischen Friedenskonzept.

Die Hauptstadt ist zum Symbol geworden

All das wollte die alte Bundesrepublik nie sein und konnte sie, widerwillig, nach der Wiedervereinigung auch nur werden, weil dieses Deutschland nicht mehr, wie zwischen 1900 und 1945, eine Art „loose cannon“ auf dem Deck des Schiffes Europa war, sondern fest eingebunden in das Wertesystem der westlichen Welt. Das machte das Land vertrauenswürdig und auch global zu einem Bezugspunkt. Für dieses Deutschland steht Berlin, als Hauptstadt, und als Symbol – ja, wieder ein Symbol – für die Überwindung von Gräben. Wobei auch hier die alte jüdische Weisheit gilt, wonach das Geheimnis der Versöhnung Erinnern heißt und nicht Verdrängen oder Vergessen. Auf seine Art hat Wolf Biermann das bei seinem Auftritt im Bundestag gelebt.

Triumph für jene, die die Mauer zum Einsturz brachten

Dafür, wie diese Verantwortung für Europa und darüber hinaus angenommen werden kann, gibt es keine Weltformel. Was auch dazugehören kann, hat Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble freilich mit seinem überraschenden Zehn- Milliarden-Investitionsprogramm demonstriert. Die Wirtschaft vieler EU- Staaten kriselt. Nicht nur Frankreich, sondern auch der IWF und die USA fordern von Deutschland mehr konjunkturelle Impulse. Zehn Milliarden Euro, über drei Jahre verteilt, sind da nicht mehr als ein Anschub. Aber verstanden werden sie, das zeigen erste Reaktionen, überall als ein Signal der Verantwortung über die eigenen Grenzen hinaus. Wenn 25 Jahre nach dem Fall der Mauer die Welt nicht mehr, wie früher, voll Sorge, sondern voll Erwartungen auf Deutschland schaut, ist das ein weiterer, später Triumph für jene, die die Mauern zum Einsturz brachten.

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