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Politik: 26 Quadratmeter Unterschied - Mittlerweile geht es den Ossis gut, besser als es manchem lieb ist (Kommentar)

Ossis und Wessis, zehn Jahre danach: Wir haben uns unsere Geschichten erzählt, wir haben uns zusammen- und auseinander gesetzt. Und doch gibt es ein "Wir" noch immer nicht.

Ossis und Wessis, zehn Jahre danach: Wir haben uns unsere Geschichten erzählt, wir haben uns zusammen- und auseinander gesetzt. Und doch gibt es ein "Wir" noch immer nicht. Die einen sagen: na und? - die anderen rätseln: warum? Tagesspiegel-Autorinnen und Autoren aus beiden Teilen Berlins gehen der Frage nach, warum partout nicht alles zusammenwachsen will, was offiziell doch zusammengehört.

Ehrlich gesagt: Uns geht es gut. Man darf das nicht sagen in einem Land, in dem es fürs Klagen Geld gibt. Aber - ganz unter uns - es ist wirklich wahr.

Der Form halber, offiziell und in den Medien verhält sich der Ossi klug: Da scheint kein Anlass zu gering, mit verständnisvoll verschleiertem Unterton auf das jammervolle Bild seiner selbst zu verweisen. Alles begründen die selbsternannten Sprachrohre der ostdeutschen Befindlichkeit mit dem dauerhaften Verlust der Vollbeschäftigung: ob PDS-Zugehörigkeit oder Rechtsradikalität, ob Resignation oder Gewalt in Familien. Das war so Anfang der Neunziger und das ist auch heute noch so. Weinerlich wird daran erinnert, dass wir in der DDR zwar ohne Freiheit waren, "dafür aber alle das Gefühl bekamen, von der Gesellschaft gebraucht zu werden".

Steht es wirklich so schlecht? Der ganze Osten eine Wüste der Hoffnungslosigkeit? Vom Wind zerzauste Fabrikhallen, die kein Unternehmer kaufen will? Entmutigte Arbeitslose, die sich von einer Beschäftigungsmaßnahme zur nächsten schleppen? Horden vagabundierender Glatzen, die jeden Schwarzen verprügeln, der ihnen einen Arbeitsplatz vor der Nase wegschnappt?

Wer sich ein realitätsnahes Bild vom "Osten zehn Jahre danach" machen will, der darf nicht hören, was geredet wird, der muss sehen, was der Fall ist. Zu empfehlen ist fürs kommende Wochenende ein Ausflug ins Berliner Umland. (Oder ins Rostocker, oder Dresdner, oder nach Jena, nach Böhlen bei Leipzig.) Wildau gehört auch dazu: Da draußen, südöstlich von Schönefeld, hat sich schon längst ein Wandel vollzogen, der ganz gewiss kein Einzelfall, sondern mittlerweile symptomatisch ist. Hundert Meter von der Autobahn entfernt reiht sich ein riesiges Kaufhaus an das andere. Keine schnell nach der Wende hingeklotzten Supermärkte, die den westdeutschen Bauherren wegen der Sonderabschreibung nichts gekostet haben, sondern solide Konsumtempel.

Auch jetzt, wo unter den Wirtschaftsforschern längst Ernüchterung über die Geschwindigkeit der Ost-West-Angleichung eingekehrt ist, wird hier weiter investiert. Was immer der konkrete Hintergrund für die Investoren sein mag, eines ist klar: Wer gerade hier in Wildau, wo ganz bestimmt nicht jeden Sonnabend mit kaufkräftiger Westkundschaft zu rechnen ist, einen Stein auf den anderen setzt, der baut auf einen wachsenden Wohlstand der Ost-Kundschaft.

Offenbar zu Recht. Gar nicht weit vom Mega-Einkaufsparadies ist in den vergangenen Jahren eine Wohnsiedlung gewachsen, die jetzt schon mehr Hektar misst, als der einstige Ortskern von Wildau. Einfamilienhäuser im Eigentum, Reihenhäuser für knapp 3000 Mark Monatsmiete; Wohnen im Grünen für solche, die sich etwas leisten können. Alles Charlottenburger Zahnärzte und Wilmersdorfer Jungerben, die hier ein kleines Vermögen in ihr Zuhause investieren?

Der Blick in die Statistik widerlegt die gern unterstellte These von der feindlichen Landname des Wessis im Grüngürtel. Wer hier wohnt, stammt aus der DDR: Vierzig Prozent der Wohnungen, die in den vergangenen Jahren im Osten neu gebaut wurden, sind Eigenheime. Im Westen waren es auch nicht mehr. Zugegeben, die Statistik sagt, dass der Haustyp Taunusstein 152 Quadratmeter misst, während man sich im Typ Gotha auf 126 Quadratmetern drängt - 26 Quadratmeter Unterschied zwischen dem reichen Westen und dem armen Osten. Im Prinzip ist damit klar, dass sich in den vergangenen Jahren genau so viele Ossis wie Wessis ein Eigenheim geleistet haben. Für ein Volk, das von seinen Vätern nicht mehr als eine Hand voll umgetauschte Alu-Chips erbt, eine ganz beachtliche Zahl. Und die Jungen? Statistiker haben herausgefunden, dass genau so viele Jungakademiker Ost mit dem Auto zur Uni fahren, wie das Westler in derselben wirtschaftlichen Lage tun. Auch die Milliarden Mark, die zwischen Suhl und Schwerin jedes Jahr in Reisebüros geschleppt werden, zeigen den ostdeutschen Wohlstandszugewinn.

Aber die Arbeitslosen? Zwanzig Prozent Arbeitslose in Ostdeutschland, das sind zu viele, und es sind doppelt so viele wie im Westen. Tatsächlich gibt es die ostdeutschen Regionen ohne greifbare Chance auf wirtschaftliche Sicherheit. Und es gibt auch die vielen Jugendlichen ohne Chance auf eine Lehrvertrag im Heimatbezirk. Doch auch im Westen wäre in mancher Region jeder Fünfte ohne Job, wenn in einem Zeitraum von zehn Jahren fast jeder Flexible anderswo nach einer Chance gesucht hätte. Darüber hinaus ist es eine alte Wahrheit, dass die nackte Prozentzahl der Arbeitslosigkeit im Westen genau so hoch wäre, wenn gleich viele Frauen wie im Osten nach einem Job suchten.

Bei noch so viel pathetischer Trauer über den schleppenden Aufbau Ost darf nicht vergessen werden: Der weitaus größere Teil der Ossis hat inzwischen einen akzeptablen wirtschaftlichen Platz in Deutschland gefunden. Zehn Jahre nach dem Mauerfall ist es diese (leider oft schweigende) Mehrheit leid, als jammernde Ost-Masse dazu gedrängt zu werden, besondere Nachsicht und Gefälligkeiten vom Westen einzufordern.

Antje Sirleschtow

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