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Kanzlerin Angela Merkerl.

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3062 Tage Angela Merkel: Von historischem Format

3062 Tage Angela Merkel – nur Kohl und Adenauer haben als Kanzler länger durchgehalten. Die Krisenbeständigkeit traute ihr kaum einer zu, als sie 2005 nach vergeigter Wahl an die Macht kam.

Von Robert Birnbaum

Mit der Frauenquote ist es immer noch so eine Sache im deutschen Bundestag. Angela Merkel ist ungefähr in der Mitte ihrer Leistungsbilanz der ersten hundert Tage Schwarz-Rot angekommen. Sie hat gerade die demografische Herausforderung kurz gestreift, angemerkt, dass in 17 Jahren auch der letzte Babyboomer vom Arbeitsmarkt verschwunden sein wird, und leitet jetzt logisch zur Frauenquote über als wichtigem Instrument der Beschäftigungspolitik. Weil die Wirtschaft es mit Freiwilligkeit nicht weit gebracht habe, müsse man halt jetzt als Regierung was tun, aber, apropos Vorbildfunktion: „Wie sieht’s denn in der Politik aus?“

Bei den Sozialdemokraten haben sie der Ansprache ihrer Kanzlerin bisher angemessen höflich zugehört – jetzt brandet dort breiter Applaus auf. Auf der rechten Seite des Hauses bleibt es stumm. Merkel stutzt. „Is’ ja auch immer schön, wenn die SPD begeistert ist“, frotzelt sie. „Ich bin’s übrigens auch. Versteh’ gar nicht die Zurückhaltung bei uns!“ Bei CDU und CSU klatschen die Frauen sowie der Alterspräsident Heinz Riesenhuber. Bei der SPD applaudieren sie vor lauter Freude gleich alle noch mal.

Womit die Frage also schon einmal geklärt wäre, wieso diese Frau ab diesem Donnerstag länger Kanzlerin gewesen sein wird als je irgendein Sozialdemokrat. Das Jubiläum ist ein bisschen künstlich, aber die Deutsche Presseagentur hat es nachgerechnet: Die Christdemokratin hat dann Helmut Schmidt überholt, Gerhard Schröder sowieso und Willy Brandt allemal, der nur viereinhalb Jahre Zeit hatte für seinen Platz in der Geschichte. Nur die CDU-Kanzler Konrad Adenauer und Helmut Kohl hielten länger durch. Aber die Geschichte ist ja auch noch nicht zu Ende.

Pathos liegt ihr nicht

Vorerst also: 3062 Tage Angela Merkel. Hätte auch nicht jeder gedacht, damals, als sie 2005 nach fast vergeigter Wahl an die Macht holperte. Geholpert hat in den Jahren danach noch vieles, trotzdem bleiben die Rahmendaten bemerkenswert: die erste Frau im Kanzleramt, in jeder Amtszeit einen anderen Partner und in jeder Amtszeit eine Krise von historischem Format – Finanzen, Euro, jetzt Ukraine.

So etwas wie diese Generaldebatte über den Kanzler-Haushalt ist da längst zur Routine geworden. Der zentrale Vorwurf der Opposition ist es aber auch. 504 Abgeordnete biete die große Koalition auf, schimpft die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt, aber „noch keine einzige Idee“. Wenn sie sich die Reihe so anschaue: „Sie sitzen so zufrieden auf der Regierungsbank, dass Ihnen die Visionen abhandengekommen sind.“

In einem ganz bestimmten Punkt ist das sogar richtig. Merkel hat anfangs versucht, in solchen Debatten ihre jeweilige Regierungstätigkeit in ein philosophisches Gewand zu kleiden. Aber die Sinnstiftung hat nie richtig funktioniert, weil ihr Pathos nicht liegt und weil Regierungspolitik in der Regel nicht einem Weltentwurf folgt, sondern der Koalitionslogik. Irgendwann hat sie den Versuch ganz eingestellt. Merkel’sche Regierungserklärungen haben seither vollends den Charakter von Aufzählungen, die allenfalls ein lockeres Konzept zusammenhält: Irgendwie hängen die „schwarze Null“ im Haushalt, die Energiewende und die Zukunft einer alternden Gesellschaft zusammen; aber bereits die Rentenpolitik hat mehr mit der Zukunft des Regierungsbündnisses zu tun als mit der Zukunft an sich. Konkret sagt die Kanzlerin zu den aktuellen Streitereien nichts.

Die Linke als neue Mitte

Insofern also hat die Grüne recht. Es gibt da nur ein Problem: Bei der Opposition sind die Visionen aktuell ebenfalls rar. Daraus resultiert die Neigung, den Begriff „Generaldebatte“ allzu wörtlich auszulegen. Generaldebatte heißt zwar, dass in diesen vier Stunden über alles gesprochen werden kann. Nirgendwo in der Geschäftsordnung steht indes geschrieben, dass jeder über alles reden muss.

Doch schon Katja Kipping redet über alles. Die Linken-Chefin steht am Mittwoch früh als Erste am Rednerpult. Das ist Tradition; die Generalaussprache gilt als die Stunde der Opposition, also bekommt die größte Oppositionsfraktion das erste Wort. Dass Kipping hier redet und nicht der Fraktionschef Gregor Gysi, ist übrigens eine kleine innerparteiliche Geste; bei der Linken steht demnächst die Wiederwahl der Chefs an.

Kipping also erscheint von Kopf bis Fuß in Rot und redet über alles: vom Bundeshaushalt, den der Finanzminister nur mit „Buchungstricks“ ohne neue Schulden hinbekomme, während in Wahrheit Deutschland „knietief im Dispo watet“, bis zu den Hebammen, die die Regierung bei ihrem Kampf gegen die Haftpflichtvorschriften „im Regen stehen“ lasse. Die Linksfraktion klatscht eifrig, der Rest des Parlaments nimmt die Expedition durch den Metaphern-Regenwald schweigend zur Kenntnis. Nur als Kipping ausruft, die große Koalition der Nichtsteuererhöher stehe auf der Seite der Millionäre, „unser Platz ist hier an der Seite der Mitte“, geht ein Gemurmel durch den Saal. Die Linke als neue Mitte – es wird ja immer schöner!

Die beste Opposition macht sich die große Koalition selbst

Pathos liegt der Kanzlerin nicht.
Pathos liegt der Kanzlerin nicht.

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Göring-Eckardt redet auch über alles. Die neue Grünen-Spitze hat in den letzten Tagen in vielen Zeitungen recht garstige Besprechungen ihrer ersten 100 Tage Oppositionsarbeit lesen müssen. Von Konzeptionslosigkeit war da die Rede, Rückzug auf innerparteiliche Auseinandersetzungen, Mangel an Kommunikationsfähigkeit, kurz: kein Format. Göring-Eckardt bemüht sich also um einen grünen Faden: Von wegen schuldenfreie Regierung – „Sie verschulden sich an den Jungen, an den Armen, an der Umwelt!“ Aber so eine Idee jene 24 Minuten lang durchzuhalten, die die Opposition in langen Verhandlungen über Redezeiten der übergroßen Koalition abgetrotzt hat – das ist nicht einfach. So wenig, wie die riesigen schwarz-roten Blöcke aus der Reserve zu locken.

Nur einmal bringt die Grüne Merkel in Verlegenheit. „Was haben Sie eigentlich getan, als Sie erfahren haben, dass Ihr Handy abgehört wurde?“, ruft Göring-Eckhardt in Richtung Regierungsbank. Merkel guckt da schon seit einiger Zeit unauffällig nach unten. Jetzt guckt sie noch unauffälliger, so in der Art: Man darf doch als Kanzlerin auch mal nach unten gucken! Erst als die Grüne das Thema wechselt, tippt Merkel weiter auf dem Handy, das sie da die ganze Zeit im Schoß versteckt gehalten hat. Und so könnte man diese Debatte mit dem Fazit beenden, dass es um die Frauenquote im Parlament ausweislich der Rednerliste so übel nicht steht, dass das aber für sich genommen auch keine Lösung darstellt – wäre nicht doch noch von einem Mann zu reden.

Oppermann als Hauptredner - ein Zeichen

Thomas Oppermann hat ein paar schwierige Wochen hinter sich. Der SPD-Fraktionschef stand im Zentrum des Koalitionszoffs, den die Edathy-Affäre ausgelöst hat; wäre es nach dem CSU-Chef Horst Seehofer gegangen, hätte Oppermann genauso sein Amt verloren wie der CSU-Minister Hans-Peter Friedrich. Oppermann hat das Ganze ziemlich mitgenommen; zeitweise wirkte er regelrecht verstört.

Dass er jetzt als Hauptredner der SPD auftritt, ist einerseits protokollarisch selbstverständlich und andererseits ein Zeichen: Die Sache ist nicht vergessen, aber vergeben. Der Unionskollege Volker Kauder wird Oppermann später sogar ausdrücklich bescheinigen, dass sie beide diese große Koalition „genauso zum Erfolg führen“ werden wie er, der Kauder, seinerzeit mit der SPD die erste. Das klingt zwar ein bisschen gönnerisch, aber so ist der Kauder im Moment halt drauf, wenn er vorne durch den Plenarsaal stiefelt mit diesem wiegenden Gang, den man sonst nur vom Sheriff aus alten Wildwestfilmen kennt.

Vom schwarz-gelben Krawall weit entfernt

Aber Oppermann macht seine Rekonvaleszenten-Rede ja auch gut. Er schlägt den Finanzminister zum ersten Preisträger einer fiktiven „John-Maynard-Keynes-Medaille“ vor – auf den britischen Ökonomen geht die Theorie zurück, dass der Staat in guten Zeiten sparen solle, um in schlechten die Konjunktur zu stützen. Er spricht über die „Gerechtigkeitslücke“, die die Mütterrente stopfen solle, beinahe so warmherzig wie die CSU – ein „Gebot der Gerechtigkeit und des Respekts“ sei das, so wie die Frührente für „Langzeit-Arbeitnehmer“, wobei man über die Unionsidee reden könne, Arbeitnehmer auch über die Rente hinaus im Job zu halten. Bei der Union freuen sie sich. Auch, dass Oppermann ausdrücklich anbietet, über einen Abbau der kalten Progression zu reden, finden sie bei CDU und CSU gut – diese kleine Steuersenkung für Arbeitnehmer wollten sie schließlich schon unter Schwarz-Gelb, nur war damals die SPD-Mehrheit im Bundesrat dagegen.

Auch Kauder ist natürlich für solche Gespräche zu haben. Aber der Unionsfraktionschef will dann doch noch etwas klarstellen: „Es wird auf keinen Fall eine Gegenfinanzierung durch Steuererhöhungen geben.“ Falls irgendjemand beim Koalitionspartner in diese Richtung denken sollte – „dann lassen wir’s lieber“. Woran man etwas ablesen kann, das zum Fazit dieser Generalaussprache genauso wie der ersten hundert Tage taugt: Vom schwarz-gelben Krawall sind sie weit entfernt – die beste Opposition macht sich die große Koalition trotzdem allemal selbst. Aber auch das ist für Angela Merkel ja keine neue Erfahrung mehr.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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