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Politik: "40 Grad Hitze" als Codewort für die Evakuierung - Die letzten Stunden der Amerikaner in Vietnam

Noch mehr als die Kommunisten fürchtete Saigon den Krieg. Die Front war nahe herangerückt, am 21.

Noch mehr als die Kommunisten fürchtete Saigon den Krieg. Die Front war nahe herangerückt, am 21. April 1975 war die letzte Bastion Xuan Loc gefallen, die den nordvietnamesischen Divisionen den Weg in die Hauptstadt versperrt hatte. Das "Womp-Womp-Womp" der Artillerie war Tag und Nacht zu hören. Aber das "Dit-Dit-Dit" der Handwaffen war den Bewohnern Saigons mit Ausnahme einiger Tage während der Tet-Offensive 1968 erspart geblieben.

Militärisch war der Kampf entschieden. Präsident Thieu hatten nach dem Beginn der Frühjahrsoffensive im Bergland, nach dem Verlust von Ban Me Thuot und Kontum, den Rückzug angeordnet. Das Corps der Journalisten wurden von der US-Botschaft zu einem Treff in die Dachbar des Hochhaus-Hotels "Caravelle" gebeten. Statt Informationen über das Kampfgeschehen gab es "geheime" Anweisungen für die Evakuierung. Das Signal dafür werde am Tag X durch das Radio vermittelt. Der Sender der US-Streitkräfte werde nach den stündlichen Nachrichten im Ernstfall diesen Satz anfügen: "Die Temperatur beträgt 40 Grad, Tendenz steigend", gefolgt von Bing Crosbys Lied: "I am dreaming of a white Christmas".

Am 28. April, 17 Uhr, wurde im Präsidentenpalast die neue, neutralistische Regierung in ihr Amt eingeführt. Es gewitterte ungewöhnlich heftig, die Reden im Saal wurden von Blitzen begleitet. Dann ging eine der Militärwachen zum Rednerpult. Mit beiden Händen fasste er das Siegel des Präsidenten, riss es aus der Halterung, drehte zackig den Körper und trug die Fahne, das Symbol der Republik Südvietnam, gemessenen Schrittes aus dem Raum.

Mir hatte diese Fahne wenig bedeutet. Aber ich hatte sie seit meiner ersten Reporterreise in diesem Krieg, 1967, als Symbol eines Staates erlebt, für den mehrere Hunderttausend Vietnamesen gefallen waren. Es schien mir ein zynischer Akt zu sein, die Fahne verschwinden zu lassen und sich damit einer historischen Verantwortung zu entziehen. Der Staat von Saigon hatte das wirklich größte Opfer gebracht, um Nordvietnam in letzter Minute zum politischen Kompromiss zu bewegen: Er hatte sich selbst aufgelöst. Eine Stunde nach der Zeremonie im Palast tauchten drei A-37-Maschinen über Saigon auf, die im Sturzflug angriffen. Man hörte das Einschlagen der Bomben in Richtung Flughafen. Sekunden danach brach die Hölle los. Jeder, der eine Waffe besaß, begann, damit in die Luft zu schießen. Menschen rannten, warfen sich zu Boden, flüchteten weiter. Bis in die Dunkelheit hinein dauerte das sinnlose Feuerwerk. Danach begann die totale Ausgangssperre. Die Republik Südvietnam hatte aufgehört zu existieren, bevor sie erobert worden war.

Die Bombardierung des Flughafens war schließlich das Signal zum Generalangriff auf die Hauptstadt. Die ganze Nacht hindurch wurde Saigon mit Artillerie und Raketen beschossen. Am 30. April, Dienstagnachmittag begann die Hubschrauber-Evakuierung. Zunächst von einem Sammelplatz im Flughafengelände aus, später in der Nacht vom Dach der amerikanischen Botschaft. Die letzten amerikanischen Soldaten flogen um 7 Uhr 53 aus Saigon zurück auf die Flotte vor der Küste Südvietnams. Um 11 Uhr morgens, 30 April, erreichten die nordvietnamesischen Panzer den Regierungspalast in der Innenstadt. Ein Soldat stürmte mit der Flagge der "Provisorischen Revolutionären Regierung" die Treppe hoch, um sie als Zeichen des Sieges am Balkon zu befestigen. Die alte Flagge war längst eingeholt.Der Autor berichtete als Korrespondent über den Fall Saigons für die ARD.

Winfried Scharlau

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