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Er hat als Minister damals mitverhandelt: Egon Bahr (SPD).

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40 Jahre Vier-Mächte-Abkommen: Egon Bahr: "Das Wort Berlin kommt gar nicht vor"

Es war das Fundament für die gesamte Ost-Politik im Westen: Vor 40 Jahren wurde das Vier-Mächte-Abkommen unterzeichnet. Zwei, die mit verhandelt haben, Egon Bahr (SPD) und der US-Diplomat John Kornblum im Gespräch.

Vor vierzig Jahren eine Sensation, heute so gut wie vergessen: So kann man das  Schicksal des Vier-Mächte-Abkommens beschreiben, das am 3. September 1971, im alten Kontrollratsgebäude, das heute wieder Kammergericht ist, von den Botschaftern der USA, der Sowjetunion, Großbritanniens und Frankreichs, unterzeichnet wurde. Aber war es nicht  vielleicht doch das wichtigste Abkommen für Berlin, das je es gegeben hat? Herr Bahr, Sie waren damals als Minister im Kanzleramt der Mann der Vertragsverhandlungen mit der Sowjetunion und dann mit der DDR...

Egon Bahr: Ich würde noch einen Schritt weitergehen: Es ist ein unentbehrliches Abkommen gewesen. Denn es reparierte den Fehler der Siegermächte – wenn man das so nennen darf –, nach dem Krieg keine Vereinbarungen über den zivilen deutschen Verkehr auf der Strasse, auf der Schiene und dem Wasser zwischen Berlin und dem Bundesgebiet getroffen zu haben. Erst nach dem Abkommen hat das dann bis zur deutschen Vereinigung erstklassig funktioniert.

Herr Kornblum, Sie waren als junger amerikanischer Diplomat an den Gesprächen beteiligt. Wie bewerten sie das Abkommen?

John Kornblum: Für mich reicht seine Bedeutung noch ein bißchen weiter. Das Abkommen war nicht nur wichtig für Berlin und Deutschland. Es war das Fundament für die gesamte Ost-Politik des Westens. Es war für den damaligen Präsidenten Nixon und seinen Sicherheitsberater Henry Kissinger ein sehr wichtiger Baustein in ihrer allgemeinen Außenpolitik. Man muss sich erinnern, was in diesen Jahren alles geschah: es gab den Vietnam-Krieg, Kissingers berühmte Geheimreise nach China, erste Ansätze zu Abrüstungsgesprächen ...

Und die Regierung von Willy Brandt und Walter Scheel hatte eben die erste dramatische Phase ihres Parforce-Ritts in Richtung Osten hinter sich gebracht: 12.August 1970 Moskauer Vertrag, 7. Dezember Warschauer Vertrag, daneben der denkwürdige Besuch Brandts in Erfurt. Welchen Stellenwert hatte in diesem Ereignis-Geleitzug das Berlin-Abkommen?

Bahr: Wir haben in Moskau gesagt, wir können den Vertrag, den Moskauer Vertrag, nicht in Kraft setzen, weil wir ohne ein befriedigendes Berlin-Abkommen dafür keine Mehrheit im Bundestag bekommen würden. Wir stellten also ein Junktim her. Danach wurde die Sowjetunion kooperativer und erklärte sich bereit, an Erörterungen unter ihren alten Kriegsalliierten teilzunehmen – wie ihr Außenminister Andrej Gromyko sagte –, um die Situation um West-Berlin zu regeln.

Kornblum: Aus amerikanischer Sicht kam hinzu, dass es seit dem Bau der Mauer nicht gut lief zwischen den Amerikanern und den Deutschen. Kennedy und Adenauer waren sich fremd. Es gab in Amerika auch eine gewisse Skepsis gegenüber der deutschen Ost-Politik. Das Berlin-Abkommen stellte dann wieder einen Konsens her zwischen den Deutschen und den Amerikanern und beendete endgültig die Berlin-Krise von 1958. Die Verbindung zwischen Berlin und Entspannungspolitik war auch von der NATO übernommen worden. Also, eine gemeinsame westliche Unterstutzung für die Deutsche Ostpolitik. Die Beziehungen in Mitteleuropa wurden geregelt, dadurch konnte man mit den Russen reden, dadurch könnte man auch mit den Chinesen reden, weil man die russische Flanke geschlossen hatte. Für das Dreiecksverhältnis, in dem – nach der Strategie Nixons und Kissingers – die Interessen von Amerikanern, Russen und Chinesen in eine Balance gebracht werden sollten, war das Berlin-Abkommen sozusagen der Schlußstein.

Lesen Sie auf Seite zwei, wie die Sowjetunion versuchte West-Berlin einzuschüchtern.

Vor allem aber war doch West-Berlin in einer schwierigen Lage – am dramatischsten sichtbar gemacht durch die sowjetischen MiG-Flugzeuge, die bei der Bundespräsidentenwahl 1969 über die  Ostpreußenhalle hinwegdonnerten, um die Abgeordneten einzuschüchtern. Drei Zs postulierte der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz als Bedingung für das Überleben der Stadt: Zuordnung – von Berlin und Bund -, Zugang – vom Bundsgebiet nach Berlin und umgekehrt – und Zutritt – nämlich der West-Berliner nach Ost-Berlin. Was bis dahin alles ganz ungesichert war.

Bahr: Oh ja, ich erinnere mich genau an Kabinettssitzungen noch in der Großen Koalition in Bonn, wo wir beraten haben, von welcher Warezeit an die Lastwagen entschädigt werden müssten, wenn die DDR die Ampeln wieder einmal auf Rot gestellt hatte: Fünf Stunden? Sieben Stunden? Wir waren abhängig und konnten jederzeit wie eine Zitrone gepreßt werden, wann es denen gefiel.

Das Abkommen selber ist ja ein ziemliches kompliziertes Gebilde mit mehreren Noten, Erläuterungen, Interpretationen. Die Veröffentlichung damals im Tagesspiegel umfasste eine eng gedruckte Seite mit Anhängen, Briefen, Erklärungen. Was war die Essenz dieses – wie Peter Bender schrieb – „Seminarstücks für Juristen und Diplomaten“?

Bahr: Es waren zwei große Dinge, die durch das Abkommen erreicht wurden. Das erste: Berlin-West, die Insel, war durch eine korridorähnliche Regelung näher an das „Festland“ der Bundesrepublik gerückt, die Reise über die Transitstrecken  wurde berechenbar, die Schikanen waren zu Ende. Und das zweite, nicht weniger wichtige Ergebnis war: Die Sowjetunion bestätigte, dass sie letztverantwortlich dafür war, das im Rahmen der vier Mächte zu garantieren und aufzupassen, dass die DDR sich daran hielt. Und das blieb entscheidend bis zum Schluss.

War es eigentlich ein Berlin-Abkommen? Oder, war es, wie die DDR unentwegt behauptete: ein Vierseitiges Abkommen über West-Berlin?

Bahr: Das Wort Berlin kommt in dem Abkommen gar nicht vor. Die Rede ist nur von dem „ betreffenden Gebiet“. Dazu kam es, weil sich die vier Botschafter lange nicht einigen konnten: Haben wir einen Vier-Mächte-Status oder hat jedes Land seine Souveränität, bezogen allein auf seinen Sektor? Das machte mich nervös. Ich erinnerte mich, dass wir beim  Passierscheinabkommen 1963 das Problem gelöst haben, indem wir die Amtsbezeichnungen als unlösbar bezeichnet und nur die Substanz geregelt haben. Eine analoge Lösung habe ich Kissinger vorgeschlagen: Könnten wir das nicht auch benutzen? Der hat dann erwirkt, dass drei Leute, der amerikanische Botschafter, Ken Rush, der sowjetische Botschafter in Bonn,  Valentin Falin und ich, an den Außenministerien vorbei, direkt angeschlossen wurden an ihre jeweils Obersten. Wir drei, Rush, Falin und ich haben dann in Bonn das ganze Abkommen durchverhandelt, Struktur und jeden Artikel. Die Sprachschwierigkeiten führten dazu, dass wir auf Deutsch formulierten. Das Vier-Mächte-Abkommen wurde also in deutscher Sprache geschrieben wurde und dann ins Englische und Französische übersetzt.

Kornblum: Aber die Kärrnerarbeit wurde ohnedies von den Botschaftsräten geleistet. Das fand hier in Berlin statt, im Kontrollratsgebäude. Ich war damals in Bonn, als Leiter des Ost-Referates, und wurde nach Berlin geschickt. Und  habe, nebenbei gesagt, die ganzen Verhandlungen von Anfang bis Ende niedergeschrieben mit Bleistift. Warum? Weil die Botschafter kein Stenogramm wollte, um nicht nachher zitiert zu werden. Übrigens wurden auch diese Verhandlungen auf Deutsch geführt, weil das die einzige Sprache war, die alle vier Botschafter konnten. Und die Formulierungen wurden immer an eine große Tafel geschrieben, auf Englisch. Und die amerikanische Delegation war für den Text zuständig.

Lesen Sie auf Seite drei, wie das Abkommen 25 Jahre später nochmals seine Verwendung fand.

Stellt man sich das am besten richtig mit Schiefertafeln vor?

Kornblum: Ja, genau. Wir saßen da an so einem viereckigen Tisch, es war ein sehr, sehr heißer Sommer, wir hatten die Fenster geöffnet und haben dann vier, fünf, sechs Stunden am Tag formuliert und diskutiert.

Bahr: Der entscheidende Punkt lag dann in der Struktur des Abkommens. Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte konnten die vier Mächte nicht mehr allein entscheiden, sondern sie brauchten die Mitwirkung der beiden deutschen Regierungen. Damit wurde das Modell 4-plus-2 geboren, aus dem dann 19 Jahre später 2-plus-4 wurde. Und es verschaffte mir die Aufgabe, mit dem DDR-Vertreter, Michael Kohl, über ein Transit- und Verkehrsabkommen zu verhandeln – dem ersten, ganz unentbehrlichen Vertrag, der den Rahmen ausfüllte, den das Vier-Mächte-Abkommen gesetzt hatte.

Kornblum: Die Struktur war so gelungen, dass ich sie auch exakt übernommen habe als Gerüst für das Daytoner Abkommen 25 Jahre später. Und sie hat wieder sehr gut funktioniert.

Beginn unmittelbar nach der Unterzeichnung, Abschluss am 26. April 1972, so dass dann am 3. Juni 1972 die Außenminister das Berlin-Abkommen unterzeichnen konnten.

Bahr: Kohl und ich haben uns ein bisschen zugeblinzelt und haben gesagt, also wir können die ja nicht ersetzen, die Vier, um Gottes Willen, aber so lange wir uns nicht einigen, können die nicht abschließen. Ihr Schlußprotokoll verlangte die Vorlage dessen, was die Deutschen gemacht haben. Es gab  einen Mechanismus, nach dem  vier Mächte sich vorbehalten haben, selbst zu entscheiden, wenn die Deutschen sich nicht einigen – er ist übrigens bis zur deutschen Einheit nicht ein einziges Mal in Anspruch genommen worden. Und was das eigentliche Transitabkommen angeht, so haben wir eine korridorähnliche Lösung geschaffen: Die Leute brauchten nicht mehr auszusteigen, sie brauchten keine Gebühren zu zahlen - das wurde pauschaliert-, die Autobusse konnten Pausen machen, also alle Einzelheiten wurden verhandelt, die wir nur uns vorstellen konnten. Bis hin zu dem Punkte, dass ich dafür gekämpft habe, dass auch Axel Springer die Straße benutzen konnte und Franz-Josef Strauß und die Heimatvertriebenen. Und dann sagte der DDR-Kohl: sie können doch nicht von uns erwarten, dass wir Flüchtlinge oder gar Fahnenflüchtige passieren lassen. Ja, habe ich gesagt,  auch das, es muss für jedermann gelten. Jeder, der den Transit betritt, muss ihn auch wieder verlassen können.

Heute gilt das Vier-Mächte-Abkommen als ein unbestrittener Erfolg. Damals gab es heftige Auseinandersetzungen darüber – Debatten im Abgeordnetenhaus, im Bundestag ...

Bahr: Na, wir in der Koalition hatten schon am 13. August 1961 zur Kenntnis genommen, mit großem Befremden, dass die hochwohlmögenden Inhaber der unkündbaren alliierten Rechte Weisungen vom Innenminister der Deutschen Demokratischen Republik Karl Maron entgegennahmen. Det fiel uns uff.

Aber das und die daraus zu ziehenden Konsequenzen waren in den 9 Jahren seit dem Mauerbau noch keineswegs überall akzeptiert, und sie selbst mussten heftige Kritik einstecken, die bis zum Vorwurf des Verrats an Deutschland reichte...

Bahr: Ich hätte Deutschland verkauft, nur noch nicht geliefert, hat Herr Strauß gesagt. Ich habe das nicht vergessen.

Und auf der Seite der Westaliierten: gab es da auch Zweifel und Vorbehalte?

Kornblum: Es hat innerhalb der westlichen Regierungen richtige Kämpfe gegeben. Es war ja das erste Mal, dass man bereit war, die DDR als Teilnehmer an einem Prozeß zu akzeptieren. Und es gab Leute bei uns, die dazu einfach nicht bereit waren, weil sie groß geworden waren mit den alten Doktrinen. Dieses Abkommen ist auch deshalb so bedeutend, weil es eigentlich den Übergang in eine neue Ära markierte. Diese Jahre von, sagen wir, 1970 bis 1975 waren  eine Phase des Aufräumens, auch in den Köpfen der Amerikaner. Und das bewirkten hauptsächlich Nixon und Kissinger, sie haben ziemlich rücksichtslos ihre Ideen durchgesetzt. Dann, interessanterweise in den 80er Jahren, ging es wieder auf Konfrontation, aber das ist jetzt ein anderes Kapitel.

Bestand zwischen Bundesrepublik und Berlin eine Bindung oder Verbindung? Eine Frage der Übersetzung sagt Egon Bahr. Lesen Sie weiter auf Seite vier.

Der Westen hat im Berlin Abkommen ja auch Gegenleistungen erbracht, die vielen nicht leicht fielen. Zum Beispiel die Zustimmung dazu, dass Berlin „kein Bestandteil“, kein – wie es hiess – „konstitutiver Teil“ der Bundesrepublik sei und von ihr auch nicht regiert werden dürfe.

Kornblum: Na ja, es gab diese Sachen - der Bundespräsident durfte in Berlin nicht mehr gewählt werden, der Bundestag und Bundesrat nicht tagen und ein paar andere. Die Sowjets haben interessanterweise das Potsdamer Abkommen ausgegraben und sich  einige seiner Positionen bestätigen lassen. Warum? Weiß ich nicht. Hat keine Bedeutung gehabt, aber für sie war es wichtig.

Und es gab die viel diskutierten Differenzen zwischen West-Alliierten und Sowjets darüber, ob zwischen der Bundesrepublik und Berlin „Bindungen“ bestünden – so die Westmächte – oder – nach sowjetischer Lesart – nur „Verbindungen“. Das hätte immerhin fast den Abschluss des Vertrags verzögert.

Kornblum: Für uns war gültig die Fassung in allen drei Sprachen: Russisch, Französisch, Englisch. Aber die russische Fassung hat uns in der Tat Schwierigkeiten bereitet. Einer unserer Dolmetscher hat mit den Russen zwei Wochen lang um die Übersetzung gerungen hat, und am letzten Tag kam er zurück und sagte: 'Sie werden das nicht ändern, das ist halt so'. Es war sprachlich so unklar, dass jede Übertragung möglich sein konnte. Kurz vor der Unterzeichnung des Abkommens am 3. September hat es dann ein Treffen der Botschafter gegeben, bei dem sie  feierlich erklärt haben, alle drei Versionen seien gleich.

Bahr: Für die Bundesrepublik hat Hans Otto Bräutigam, der spätere Ständige Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, mit zwei Kollegen in einem mehrtägigen Kraftakt die Übersetzungen verglichen. Ich habe zu ihm gesagt: Es sei doch ein ganz klarer Unterschied, ob ich zu einer Frau Verbindungen oder Bindungen habe. Aber es hat nichts genützt. Wir haben mit diesem Unterschied gelebt bis zum Ende der Teilung und er hat nichts mehr bedeutet, praktisch. Aber bis heute kenne ich den russischen Ausdruck „Swasi“, dass bedeutet nämlich Bindungen und Verbindungen.

Wie würden Sie heute die Wirkung dieses Abkommens beschreiben? Was hat es in seiner vergleichsweise kurzen Existenz – es war ja nicht einmal zwanzig Jahre in Kraft – politisch gebracht?

 Bahr: Erstens, es brauchte bis zur deutschen Einheit nicht mehr geändert zu werden – was zeigt, dass es funktioniert hat. Und zweitens, war nicht nur die Existenz West-Berlins gesichert, sondern es gab auch keinerlei Akte, Versuche, Vorschläge zur deutschen Einheit mehr. Das Abkommen hat die Verhältnisse in Europa stabilisiert und dessen Status quo praktisch, na ja, zementiert kann man nicht sagen, aber jedenfalls de facto akzeptabel gemacht. Es war das klassische Beispiel für die Richtigkeit von Kennedys Weisheit: Wer den Status quo verändern will, muss ihn zunächst anerkennen.

Kornblum: Und es hat auch sozusagen die Definitionen geschaffen, mit denen man die Situation in Europa begreifen und mit ihr umgehen konnte. Ich bin überzeugt davon, dass es ohne das Berliner Abkommen zum Beispiel nicht die Schlußakte von Helsinki gegeben hätte.. Nur dank dieses Abkommen konnte es gelingen, die KSZE, die  „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ zustande zu bringen, und das gleiche gilt für MBFR, die „Mutual Balanced Force Reductions“, die Konferenz über den Truppenabbau in Mitteleuropa, ja, in gewissem Sinn auch für die Normalisierung der Beziehungen zur Sowjetunion und Polen. Dieses Abkommen war sozusagen die Quelle auch  für andere Fortschritte, die sehr wichtig waren. Am Ende aller dieser Entwicklungen sah dann die Lage in Europa  anders aus.

Das Gespräch führte Hermann Rudolph                   

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