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Hy Abrams, Überlebender, hat in einem Büchlein die Namen der Konzentrationslager eingetragen, in denen er von den Nazis inhaftiert worden war.

© Reuters

70 Jahre Befreiung von Auschwitz: Unser Ort

Vor 70 Jahren hat die Rote Armee das größte Vernichtungslager der Nationalsozialisten befreit. Auschwitz steht als Synonym für den Zivilisationsbruch – durch ihn erfährt das Gedenken seine menschlichen Grenzen. Ein Essay.

Ein Essay von Peter von Becker

Zwei Silben, die einen Menschheitsschrecken bezeichnen. Das Wort Auschwitz ist bis heute nicht nur der Inbegriff für den Völkermord an Europas Juden sowie auch den Sinti und Roma. Der Name bedeutet auch eine ungeheure Projektionsfläche. War das biblische Menetekel nur eine Warnung, gehören alle Vorstellungen von der Apokalypse und dem weltendenden Armageddon noch dem Mythos an, so war Auschwitz Realität.
Doch was bedeutet in diesem Zusammenhang: Realität?
Man hat Auschwitz eine „industrielle Todesfabrik“ genannt und einen „Zivilisationsbruch“. Weil Auschwitz als Hauptschauplatz der von den Nationalsozialisten – in ihrem Mörderbürokratendeutsch – beschlossenen „Endlösung der Judenfrage“ außerhalb aller gewöhnlichen Rationalität zu liegen schien. Technokraten ließen mitten in einem Weltkrieg und fern jeder militärischen Logik tausende Züge durch Europa rollen, um Menschen jeden Alters, nur weil sie Menschen waren, an ihrem Bestimmungsort in Asche zu verwandeln. Soweit ein Teil der Opfer zuvor nicht noch kurze Zeit als Arbeitssklaven oder als Versuchsmaterial rassistischer Mediziner missbraucht wurde.
War jene nationalsozialistische Rassenideologie auch Wahnsinn, so hatte ihre gleichsam staatsterroristische, alle Werte der vermeintlich aufgeklärten Kultur umstürzende Verwirklichung doch Methode. Liest man die über 200 Druckseiten umfassenden autobiografischen Aufzeichnungen des 1947 an seinem Tatort gehenkten Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß oder hat man die filmisch protokollierten Aussagen des Holocaust-Organisators Adolf Eichmann 1961 im Jerusalemer Prozess gehört, dann sprachen da tatsächlich zwei auf „Disziplin und Ordnung“ versessene Büro-Technokraten des Todes. Oder moderner gesagt: zwei Manager des Massenmordes. Die „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt) war ihr empathiefreier, gleichsam entpersönlichter Sadismus, und mehr als die in der menschlichen Geschichte immer wiederkehrende Grausamkeit bezeichnete ihre Perversion der Vernunft den besonderen, einmaligen „Zivilisationsbruch“.
„Nie wieder Auschwitz!“, rief Bundesaußenminister Joschka Fischer zu Zeiten des Balkankrieges aus. Dieser Botschaft wird kein gesitteter Mensch widersprechen. Aber kann Auschwitz vom politischen Alltag oder dem feiertäglichen, trauertäglichen Gedenken so ohne Weiteres symbolisch vereinnahmt werden?

Die russischen Truppen trafen auf 7650 ausgemergelte, traumatisierte Gefangene

Als am 27. Januar vor 70 Jahren der riesige Mordlagerkomplex Auschwitz-Birkenau mitsamt seinen angeschlossenen Nebenhöllen von der nach Oberschlesien vorrückenden Roten Armee befreit wurde, waren die Täter der SS bereits abgezogen. Die russischen Truppen trafen auf 7650 ausgemergelte, traumatisierte Gefangene, von denen einige hundert in den Tagen danach an Verletzungen, an Entkräftung und Krankheit starben. Ab Mitte Januar 1945 hatten die Deutschen bei ihrem Rückzug noch fast 60 000 überwiegend jüdische Häftlinge auf die sogenannten „Todesmärsche“ in Richtung Westen gehetzt, fast ohne Nahrung, fast ohne Kleidung, durch den eisigen Winter. Etwa 600 Frauen, Männer und Kinder hatten die letzten SS-Mannschaften in Auschwitz-Birkenau erst Stunden vorm Eintreffen der Russen erschossen. Da waren die Gaskammern und Krematorien schon gesprengt worden.
Der Holocaust, die Schoah – wie immer man den Genozid auf Englisch, Hebräisch oder Deutsch bezeichnet –, trägt zuerst den Namen: Auschwitz. Mindestens eine Million Juden wurden hier ermordet, die meisten in den vier großen und zwei provisorischen Gaskammern des Lagers Auschwitz-Birkenau. Hinzu kommen die Sinti und Roma, die Kriegsgefangenen, die Homosexuellen, die politischen Häftlinge, wohl zusammen noch einmal 400 000 Opfer. Wie viele genau, weiß niemand. Weil die Mehrzahl der Deportierten von der berüchtigten Rampe hinter dem hohen Bahn-Einfahrtstor von Birkenau direkt ins Gas getrieben wurde, hat die SS „nur“ 405 000 Gefangene registriert und ihnen die grünen Häftlingsnummern auf die Unterarme tätowiert. Von ihnen haben Auschwitz (oder nach Auschwitz andere Lager) schätzungsweise 65 000 Menschen überlebt. Wenige von ihnen sind jetzt, nach sieben Jahrzehnten, noch die letzten Zeugen. Von den 16 000 in Auschwitz internierten sowjetischen Kriegsgefangenen waren 1945 bei der Befreiung gerade 96 am Leben. So vermerkt es die dreibändige, zuerst in Israel, den USA und in Deutschland erschienene „Enzyklopädie des Holocaust“.
Zahlen. Vorstellen kann sich das niemand. Nicht die Millionen Frauen, Männer und Kinder, die in Viehwaggons aus Frankreich oder Griechenland, aus Holland oder Polen, aus Berlin-Charlottenburg (der erste Deportationszug von dort erreichte Auschwitz im Januar 1943) oder von einem Schwarzwalddorf aus ihrem trotz Krieg und Verfolgung doch oft noch zivilen Leben gerissen wurden: um mitten im 20. Jahrhundert in Mitteleuropa, wenn nicht in Treblinka, Sobibór, Majdanek oder anderen Todeslagern, an jenem zum Symbol für alle gewordenen Ort zu landen. Der Pole Wieslaw Kielar, der als Häftling Nr. 290 schon ab 1940 von den Anfängen an fast fünf Jahre Auschwitz überlebt hatte, nannte den Ort im Titel seiner Memoiren den „Anus Mundi“. Das ist härter als die gebräuchliche Formel der „Hölle auf Erden“, meint eine Stätte auch, an der selbst gläubige Menschen glaubten, dass Gott nicht existieren könne.

Es war die Erde. Aber zugleich ein anderer Planet

Also auch keine Hölle. Es war die Erde. Aber zugleich ein anderer Planet. Der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész wurde im Alter von 14 Jahren im Sommer 1944 von Budapest nach Auschwitz deportiert, als einer der über 400.000 ungarischen Juden, die dort fast alle zwischen Juli und September vergast, erschlagen, zu Tode gequält und verbrannt wurden. Kertész schickte man nach einigen Wochen weiter in das KZ Buchenwald – später als Schriftsteller hat er seinem Überleben wie allem Leben oder Sterben im Lager das menschliche „Schicksal“ abgesprochen. Denn es war für ihn die Zurücknahme der Schöpfung. Und entgegen allen wohlmeinenden Versuchen der Einfühlung hat George Tabori, wie Kertész in Budapest geboren, einmal gesagt: „Auschwitz ist jenseits der Tränen.“ Sein Vater wurde dort 1944 ermordet, der Sohn aber hat von ihm bei einem Besuch der Gedenkstätte Auschwitz ein halbes Jahrhundert später „nichts gefunden“. Er meinte: nichts in sich selbst, nichts als „Besucher eines Museums“.
Die Gedenkstätte des ehemaligen Lagers Auschwitz-Birkenau steht seit 1979 auf der Unesco-Liste des „Welterbes“. Die sonst übliche Bezeichnung als Weltkulturerbe würde hier makaber wirken. Inzwischen besichtigen rund anderthalb Millionen Menschen pro Jahr das sogenannte „Stammlager Auschwitz I“ sowie das drei Kilometer entfernte Hauptvernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Es sind meist Jugendliche, vor allem Schülergruppen, die auch die Mehrheit der jährlich etwa 60 000 Besucher aus Deutschland bilden. Die polnische Gemeinde Oswiecim, an der großen Bahnstrecke durch Südpolen, zwischen Krakau und Breslau gelegen, war nach der deutschen Besetzung früh zum Sperrgebiet erklärt worden, die jüdische Bevölkerung wurde umgebracht, die übrigen Polen meist vertrieben. Aus den noch heute äußerlich fast unveränderten zweistöckigen Ziegelbauten einer ehemaligen Kaserne aus Habsburger Zeiten wurde 1940 das mit dem zwei Kilometer entfernten Bahnhof durch ein Abzweiggleis verbundene Stammlager. Sein Torbogen trägt die schwarze Aufschrift „Arbeit macht frei“: in Versalien, das Wort MACHT obenauf. Ab 1941 wurde dann das zugehörige KZ Birkenau errichtet, fast zehnmal größer, wo die Häftlinge ihre Baracken auf nackter Erde bauen mussten. Wo am Rande eines Birkenwäldchens die großen Gaskammern und Krematorien entstanden.
Beide Anlagen sind bis heute von dem originalgetreuen, früher starkstromgeladenen Stacheldrahtzaun, den Laternenpfählen und Wachtürmen umgeben. Dabei wirkt das Stammlager auf kaum 400 mal 1000 Metern überraschend klein. Die 28 nummerierten Blocks in den Maßen 45 x 18 Meter stehen exakt entlang der drei Lagerstraßen und der umgebenden Pappelreihe. Unweit links vom Eingangstor steht unter einem dünnen, begrünten Erdwall noch immer der feuchtkahle Bunkerraum mit den Doppeltüren, den Gucklöchern, den von außen mit Handdeckeln versehenen Einfüllstutzen in der Decke, und nebenan die rostigen Eisenloren und offenen Öfen. Das war die erste Gaskammer im Stammlager, die einzig erhaltene, weil zuletzt auch als Luftschutzbunker für die SS genutzt.

Eine deutsche Familie: in Hörweite des Hundegebells, der Schmerzensschreie

Als ich im November 1986 hier das erste Mal war, rutschten polnische Kinder die verschneite kleine Anhöhe der ehemaligen Gaskammer herab. Damals wohnten noch ein paar Familien gleich nebenan im Block der früheren Lagerleitung, gegenüber dem Galgen, an dem der Kommandant Rudolf Höß 1947 geendet ist. Er hätte von dort übrigens auch hinüberschauen können zu seiner ehemaligen Dienstvilla, die hinter einer Steinmauer direkt am Todeszaun lag, mit dem Garten, in dem die Kinder der Familie Höß gespielt haben. Eine deutsche Familie: in Hörweite des Hundegebells, der Schmerzensschreie, der Kommandorufe. Nur einen Steinwurf weit waren die Blöcke 10 und 11 entfernt. In Nr. 11 die Folter- und Hungertodzellen (mit einer Gedenktafel für Pater Maximilian Kolbe), die 90 mal 90 Zentimeter messenden Stehbunker, in die jeweils vier Häftlinge gepfercht wurden, der Kellerraum, in dem am 3. September 1941 an 850 russischen Kriegsgefangenen erstmals das Giftgas Zyklon B „erprobt“ wurde. Im Block gegenüber mit den holzvernagelten Fenstern hatte man den Frauen die Gebärmutter mit Beton gefüllt oder mit Röntgenstrahlen verglüht. Dazwischen im Hof die Hinrichtungswand, an der 20 000 Menschen erschossen und Kleinkinder zerschmettert oder mit Stiefeln totgetreten wurden.
Von den gesprengten Gaskammern und den meisten der 200 langgestreckten Häftlingsbaracken in Birkenau sind nur noch Ruinen, die Kaminstümpfe oder geborstene Betonplatten übrig. Aber einige der Baracken mit den übereinandergestapelten Holzpritschen, den Latrinentrögen, der Schutzlosigkeit gegen alle Witterung gibt es bis heute. Jetzt konserviert, im Jahr 1986 noch wehte der Wind hindurch, waren die Decken undicht, und die Hand des Besuchers fuhr über das morsche, rissige Holz der Häftlingsliegen. Der Besucher wollte in der Stille versuchen, sich etwas vorzustellen, in diesem Pompeji des Weltschreckens. Bis die saubere, sichere, wohlgenährte Hand zurückzuckte. Aus Respekt und beschämt.

Es gibt in der Gedenkstätte Auschwitz die Berge von Haaren, Brillen, Prothesen, Schuhen, Koffern

Es gibt viele gute Bücher. Über Auschwitz und den Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–65, dessen Vorgeschichte soeben im Kino zu sehen ist („Im Labyrinth des Schweigens“). Es gibt die dokumentarischen Filme von Alain Resnais, von Claude Lanzmann („Shoah“), zudem hat 1978 eine sentimentale, eher schreckensmilde amerikanische TV-Serie namens „Holocaust“ die alte Bundesrepublik erstaunlich erschüttert. Es gibt in der Gedenkstätte Auschwitz die Berge von Haaren, Brillen, Prothesen, Schuhen, Koffern, dazu Fotos von Opfern – und die Filmaufnahmen russischer Kameraleute, die das offene Massengrab der zuletzt Ermordeten zeigen. Die nackten Körper und Gesichter sind in der Todesstunde jenes Winters vor 70 Jahren festgefroren, so blicken sie einen an mit trauerstarren Augen. Viele sind es und ganz wenige im Vergleich zu der unermesslichen Zahl. Am Bauch einer jungen Frau ruht in der Grube obenauf auch ihr Baby, mit ihr noch immer verbunden durch die Nabelschnur. Die vielen anderen haben ihr Grab nur in den Lüften. Unsichtbar. Die Nachgeborenen können es nie mehr begreifen. Darüber hat der als Schüler mit seiner jüdischen Familie aus Berlin vertriebene Schriftsteller Peter Weiss zur Zeit, als er 1965 sein Auschwitz-Oratorium „Die Ermittlung“ schrieb, bei einem eigenen Besuch in Auschwitz reflektiert. In den Erfahrungen der Nichtdabeigewesenen existiert kein erworbener Grundstoff des Einfühlens, des inneren Ausmalens. Doch über diese Kluft in jedem empathischen Gedenken hinweg nannte Weiss den Ort „Meine Ortschaft“. Es ist kein Unort, kein Niemandsland. Es bleibt unser Ort.

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