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Der Club der Abbadiani. Die treuesten Anhänger des Dirigenten trafen sich im Mai bei seinen Konzerten in der Berliner Philharmonie. Unter ihnen ist auch Sylvia Hoffmann – erkannt werden möchte die Bibliothekarin aber nicht. Foto: David Heerde

© David Heerde

Abbado wird 80: Leben im Takt des Dirigenten

Sie reist zu jedem Konzert von Claudio Abbado an, seit drei Jahrzehnten. Ihr Archiv ist das wohl umfangreichste der Welt. Auch den 80. Geburtstag des Maestros wird sie begleiten. Aus der Ferne.

Sie sei so etwas wie sein Schatten, hatte sie gesagt. Und es verstehe sich von selbst, dass Schatten keine Namen haben. Zur Not könnte sie jedoch damit leben, für diese Geschichte Sylvia Hoffmann zu heißen.

Man solle nicht erwarten, dass es bei ihr etwas zu essen gebe, hatte sie vor dem Besuch noch gesagt. Sie habe selten viel im Haus. Sie koche auch nicht. Essen, Trinken, Kleidung, „das interessiert mich null. Dafür gebe ich kein Geld aus“. Denn das Leben, das sie führt, ist keines im Überfluss, sondern eines der Prioritäten. „Ich habe das Glück, dass es Sachen gibt, die mich nicht interessieren. Und da mache ich dann meine Ersparnisse.“

In Berlin, an einem grünen Ende der S-Bahn-Linie 1, kann man sie besuchen, in ihre Besucherpuschen schlüpfen und damit in eine Sicht auf die Welt, die von außen vielleicht manchmal merkwürdig wirken kann, von hier aus jedoch ganz und gar folgerichtig erscheint.

Sylvia Hoffmann steht in ihrem 65. Lebensjahr und vor 49 Ordnern Presseausschnitten, einem Tonarchiv, Büchern, DVDs, Programmheften, einer chronologischen Kartei mit Abbados Konzerten der letzten drei Jahrzehnte und einer Kartei sortiert nach Komponisten. In ihrem Computer befindet sich eine Datei, nur „Die Liste“ genannt, mit allen bekannten Auftritten von Claudio Abbado. Es ist, bei aller Bescheidenheit der Urheberin, das womöglich größte Abbado-Archiv der Welt. Es ist die Arbeit von über 30 Jahren. Hoffmann ist ausgebildete Bibliothekarin, und dies ist ihr Meisterstück. „Eine unordentliche Bibliothek wäre ein Widerspruch in sich.“

Fremder Freund. Ob Claudio Abbado seine Verehrer kennt? Nur vom Sehen. Foto: dpa
Fremder Freund. Ob Claudio Abbado seine Verehrer kennt? Nur vom Sehen. Foto: dpa

© dpa

„Und jetzt kommt die nächste Gaudi“, sagt sie und füllt mit links eine Abbado-Tasse mit frischem Kaffee. Die Tasse haben ihr Freunde zum Sechzigsten geschenkt, und nun wird sie weit ausholen müssen. Weil sie weiß, dass man etwas erklären muss, wenn man 30 Jahre lang sein Leben nach Claudio Abbados Konzerten ausrichtet, im Takt seiner Auftritte durch Europa fährt. Wenn jemand exakt 92 Tage vor einem Konzert, Punkt Mitternacht, sobald bei der Bahn die Sparpreise herauskommen, am Rechner sitzt, um etwa für unter 40 Euro ein Ticket von Berlin nach Luzern zu buchen. Oder nach Bologna, Paris, Florenz.

Aber da ist keine schrille Begeisterung, ihre Verehrung ist nicht kopflos. „Klassischer Fall: ängstliches Kind“, analysiert sie. Dem aber in einer Herzensangelegenheit plötzlich Ungeahntes möglich wird. Die Mutter Engländerin, der Vater Berliner, zieht die Familie 1955 nach London, weil der Vater dort arbeitet. Schon 1959 geht es gegen ihren Willen weiter nach Paris, da man ihn bei der Nato braucht.

Gerade als das Leben sich für das Kind als eine fortdauernde Entfremdung zu gestalten scheint, kommen die Berliner Philharmoniker nach Paris. Damals noch mit Karajan. „Heimat“, denkt die 15-Jährige und zahlt am 26. April 1963 an der Kasse des Théâtre des Champs-Elysées zwölf Francs. Und was sie dort auf dem zweiten Balkon hört, Brahms’ Violinkonzert, verändert ihr Leben. Der grüne Eintrittskartenschnipsel, den sie später in ein Ringbuch mit Karopapier klebt, berechtigt sie ein für alle Mal zum Eintritt in die Welt der klassischen Musik, die fortan ihre Heimat werden soll. Sie mag eine Musiksendung besonders, in der aus jedem Satz dieselbe Stelle von verschiedenen Interpreten gespielt wird. Ihr gefällt das Systematische an dem französischen Schallplattenvergleich.

Nach dem Abitur in Paris studiert sie Anglistik und Romanistik in Mainz und schaut 1968 einmal kurz von ihren Büchern auf, um die Revolution zu ignorieren. Zu ängstlich, um jeden Tag als Lehrerin vor einer Klasse zu stehen, wird sie Bibliothekarin in der wissenschaftlich orientierten Stadtbücherei. Als sie dort 1978 eine Freundin auf Abbado hinweist, legt sie zu Hause eine Platte auf: Mahler, vierte Sinfonie, Karajan und Abbado im Vergleich. „Beim dritten Satz der Mahler vier war es um mich geschehen.“

Sie will ihm ins Gesicht sehen beim Konzert. Wenn er sich öffnet

Vier Jahre später, am 17. Oktober 1982, sitzt Sylvia Hoffmann in der Royal Festival Hall in London, Abbado dirigiert Berlioz’ „Te Deum“. Ihr Mann sitzt neben ihr und beobachtet sie genau. Er erkennt sofort, dass dies eine Wende in ihrem Leben bedeutet, „schon an meiner Erwartungshaltung vor dem Konzert“. Hoffmann eröffnet sofort eine Konzertkartei für Abbado, und dies wird ihre Karte Nummer eins.

Sie arbeitet in Mainz in der Bibliothek, gehobener Dienst. Sie liebt ihre Arbeit, aber Mainz kommt ihr immer feucht vor, warm-feucht im Sommer und kalt-feucht im Winter. Im November gehen die Urlaubslisten für das nächste Jahr durchs Haus. Aber da kennt sie die Konzerttermine noch nicht. Hoffmann leidet an Unsicherheit, Unverbindlichkeit und Unordnung. Es macht ihr dagegen nichts aus, mit Nachtzügen durch ganz Europa zu fahren, „vom Bahnhof in den Dienst“, jahrelang, um einen ihrer kostbaren 30 Urlaubstage zu sparen.

Es sind die Jahre, in denen sich das System ausbildet und ständig verfeinert. Ein System mit Mitarbeitern in der ganzen Welt, dessen Säulen Zeitungshändler, Archivare, Nachtportiers, Gastronomen und Blumenhändler sind. Es ähnelt dem Prinzip der Bibliothek in Präzision, Arbeitsweise und Anspruch. Es lebt davon, dass Hoffmann über Jahre ein Netz spannt, dessen Knotenpunkte sie immer wieder justiert: Luzern, Bologna, Ferrara, Berlin, die Aufführungsorte von Abbado. Der Zeitungshändler Enzo in Bologna hebt ihr, wenn es sein muss, die Konzertkritiken vom März bis zu ihrem nächsten Besuch im Mai auf. Der Nachtportier des Hotels bringt ihr, als er von ihrer Mission erfährt, seine private Zeitung.

Hoffmann besitzt außerdem Nutzerkarten für die Bibliotheken in Ferrara, Bologna und Luzern. Tagsüber, vor dem Konzert, recherchiert sie in den Zeitungsarchiven die Kritiken und kopiert sie für ihr Archiv. Viele Zeitungen erkennt sie am Druckbild. Zu Weihnachten bekommt das Personal der Bibliothek in Ferrara von ihr Schokolade.

Zum Kleben möglicher Risse in den Zeitungsseiten bezieht sie Filmoplast P, ein säurefreies Klebeband in Archivqualität, von einer Firma aus Hamburg.

Und wie sich die Dinge so entwickeln! Über die Jahre nimmt ihr Engagement ungeahnte Ausmaße an. 1995 gründet sich in Italien der Club der „Abbadiani itineranti“ – der reisenden Abbadianer –, für die Hoffmann Kalender und Archiv führt. Sie dokumentieren sein Schaffen und werfen nach den Aufführungen Blumen. Nach Abbados überstandener Magenkrebserkrankung nimmt sie sich vor, von nun an wirklich jedes Konzert zu besuchen. Das heißt, wenn er drei Abende in einer Stadt spielt, hört sie dort auch drei Konzerte, „von denen jedes anders ist“.

Irgendwo auf dem Weg kommt ihr der Mann abhanden, ein Toningenieur, mit dem sie 25 Jahre verheiratet war. „Er hat sich Mühe gegeben, ist mit mir gereist – aber irgendwann wurden ihm meine ganzen geistigen Interessen zu viel.“

Zum Glück äußern sich ihre Wünsche klar. Sie sind zwar ausgefallen, streiten aber nie untereinander. Als sie 2009 ihre Wohnung in Mainz verkauft, um wieder nach Berlin zu ziehen, „einziger Grund: das Orchester“, sucht sie sich in der Stadt, aus der sie 1955 wegzog, eine Bleibe. Einzige Bedingung an die Wohnung: „ohne Umsteigen in die Philharmonie“.

Und dann ist es endlich Frühling und Zeit, dass Abbado seinen jährlichen Besuch bei den Berliner Philharmonikern abstattet. Sie fährt mit ihrer S 1 direkt zum Potsdamer Platz, das letzte der drei Konzerte am 21. Mai wird als Nummer 484 in ihre Kartei eingehen. Es ist der dritte Abend, an dem sie Abbado dabei zusieht, wie er seine Klangskulptur in den Raum hineinmodelliert. Leicht fächelt er mit langen Fingern den Sommernachtstraum von Mendelssohn Bartholdy aus dem Orchester. Geschmeidigkeit ist das Gegenteil von Alter.

Hoffmann sitzt in Block H, die besten Plätze sind nicht die akustisch gelungenen, sondern die mit dem besten Blick in das Gesicht des Dirigenten. „Das ist ein Schauspiel, dass man in seinem Gesicht alles lesen kann!“ Kaum jemand komme ja ran an diesen verschlossenen Menschen. Interviews gibt er selten. „Aber beim Dirigieren öffnet er sich vollkommen.“ Vielleicht ist also paradoxerweise das öffentliche Konzert Abbados intimster Moment. Vielleicht ist hier auch die größtmögliche Nähe möglich. Eine Nähe, die die persönliche Bekanntschaft gar nicht braucht.

Hoffmann kann ihre eigene Sorgfalt gut erklären, aber die Seele ihrer Arbeit, die liegt hier, die muss man hier spüren. In der Pause läuft sie gut durchblutet treppauf und treppab, jungen Musikern und alten Bekannten aus Salzburg winkend. Kein Anstehen, kein Getränk, ein paar Worte sind Nahrung genug. Dann legt Abbado wieder die Spannung an. Sorgfältig sortiert er Berlioz’ „Symphonie Fantastique“ um die Stille herum. Die Konzentration ist vollkommen.

Und dies ist es. Jetzt. Dies ist der Kern von allem. Der Punkt, von dem alles ausgeht und auf den zugleich alles zuläuft: die Arbeit von Sylvia Hoffmann, das Üben der Musiker, die Konzentration des Dirigenten und sogar die Baukunst des Architekten Scharoun. Jetzt verschmilzt alles zu einem Erlebnis. Es ist das Gefühl von absoluter Gegenwart, dieses Paradox von Musik überhaupt, die bei allem Alter trotzdem immer wieder den Eindruck erweckt, gerade hier und jetzt entstehe etwas Neues, Einzigartiges, das nur an diesem Abend möglich ist. Es ist Ziel und Ursprung aller Anstrengung zugleich.

„Abbado ist ja eher schüchtern – und lebt deshalb im Widerspruch“, sagt Hoffmann, und dass Leute ihm das häufig nicht abnehmen. Sie jedoch versteht die Jahre, in denen er sich am liebsten ins Schweizer Fextal zurückzog, ohne Telefon. Seinen Drang, an seinem Geburtstag vor Sardinien zum Segeln zu verschwinden. Das Wort „Karriere“, hatte Hoffman gesagt, mag er nicht. Und viele glauben das nicht. Schließlich werde niemand aus Zufall Musikdirektor an der Mailänder Scala oder Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, was er ja von 1989 bis 2002 war, zwischen Karajan und Rattle.

Aber vielleicht, denkt man, während Abbado da unten die Musiker pulsieren lässt, ist es gar kein Widerspruch, sondern im Gegenteil eine Bedingung: Das meiste Große und Großartige gründet darauf, dass jemand sehr lange mit sich und seinem Thema alleine war, bis er es durchdringt, bis das, worin er sich übt, vor einer großen Menge bestehen kann. Es braucht die Lehrjahre der Musiker, die Versenkung des Dirigenten in die Partitur, das Ringen des Architekten mit dem Raum. Es sind die akkumulierten Jahre der Einsamkeit, der Arbeit und Hoffnung, die hinter allem stehen. Nur deshalb ist es möglich, dass in diesem öffentlichen, übersteigerten Moment zugleich so viel Intimität liegt.

Journal, Liste, Kladde - das Prinzip Bibliothek auf ein Leben angewendet

Abbado arbeitet jetzt in das Orchester hinein, und die Musiker arbeiten in ihre Instrumente hinein, und bei den Zuhörern tritt das Erhabene in Form einer Gänsehaut nach außen. Die Zuhörer sind es am Ende, die die Spannung nicht halten können und, kaum ist der letzte Ton verklungen, jubelnd von den Sitzen springen.

Ein paar Tage später empfängt Hoffmann wieder im Grünen. Die Cantuccini kommen direkt aus Florenz. Das Konzert der Natur tschilpt erratisch zum Fenster herein. Nicht, dass man da etwas falsch versteht. „Ich überrenne keine Wächter“, sagt sie. Hoffmann begann ihre Leidenschaft nicht mit dem Ziel, Abbado kennenzulernen. „Schon gar nicht, unter gar keinen Umständen, dass ich da jemandem näherkommen könnte.“ Abbado kenne wohl ihren Namen, auch ihr Gesicht. Doch tut sie nichts dafür, dass er beides zusammenbringt. Auf keinen Fall will sie für jemanden zur Plage werden.

Ihre Nähe kommt eher aus den Gemeinsamkeiten, dem Perfektionismus, der Menschenscheu, der Beharrlichkeit und dem Ernst. Vielleicht macht es einen Unterschied, dass sie Sternzeichen Krebs ist, wie er. Geboren genau eine Woche nach ihm, am 3. Juli 1947.

Und nun kommt sie, 65 Jahre alt, an einen Punkt, an dem sie dem Dirigenten rückblickend irgendwie ihr Leben verdankt. Wenn ihre Freundin früher über Abbado sagte: „Er erzieht mich“, dann hat sie das lange nicht verstanden. Heute schon. „Natürlich weiß ich, dass ich längst hätte Canetti lesen müssen, aber getan habe ich es schließlich, weil Abbado ihn liebt.“ Und: „Von Karajan hätte es keine Literaturtipps gegeben.“ Das war ein ganz anderer Mensch.

Es geht ja gar nicht nur um Abbado. Sie hat mit ihm (und in ihm und durch ihn) sich selbst gefunden. Ihr Leben um Dimensionen erweitert, in die sie sonst nie vorgestoßen wäre. Da sind die Freundschaften, die ja nicht seine, sondern ganz ihre sind. Der Club der Abbadiani. Der Japaner, der Hoffmann 2006 in Tokio eine Karte besorgte und mit dem sie bis heute befreundet ist. Konzertbesucher aus ganz Europa, junge Musiker aus Italien kommen sie in Berlin besuchen. Freundschaften und Kontakte halten über Jahre, weshalb sie schon Mitte November damit beginnen muss, ihre 160 handschriftlichen Weihnachtskarten zu verfassen.

Hoffmann, Angst vor Autos, ohne Führerschein, Angst vor Flugzeugen und Gewitter, saß 2006 wahrhaftig im Flieger, eine Freundin rechts, eine links, und war auf dem Weg nach Japan, wo Abbado vier Konzerte in Tokio geben würde!

Am liebsten jedoch ist sie den ganzen Tag zu Hause und widmet sich ihrer Korrespondenz, der „Liste“, dem Lesen. Abbado hat die Noten. Sie hat das Notat: Alles gerät ihr zu einem Journal, einer Kladde, wenigstens einer Liste. Die Reisen, die Dokumente, die Korrespondenz. Es ist das Prinzip der Bibliothek auf ein Leben angewendet.

Unabhängig von ihrer Person hat Hoffmann auf diese Weise – unter Einsatz ihres Lebens – ein komplementäres Werk geschaffen. Sie ist eine Koryphäe geworden, in Abbados Daten über jeden Zweifel erhaben. Biografen kontaktieren sie. Ihre Verehrung hatte von Anfang an System. Nun fände sie es schade, wenn das Archiv nach ihrem Tod keinen guten Platz fände. In den Gesprächspausen hört man die Stille.

Am 26. Juni wird Abbado 80 Jahre alt. Sie wird „in die Stadt“ fahren, zum Bahnhof. Sie wird alle Zeitungen sichten vom „Hamburger Abendblatt“ bis zum „Mannheimer Morgen“. „Ich kaufe alles, was da ist.“ Sie wird den Tag mit dem Lesen und Ausschneiden seiner Würdigungen verbringen und im Copyshop ihre 1000er-Karte strapazieren. Sie wird die Hände voller Druckerschwärze haben und gar nicht verhindern können, dass etwas von ihm auf sie abfärbt.

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