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Wendehals. Senator Andrea Augello wechselte sechsmal die Fraktion.

© picture alliance / dpa

Abgeordnete in Italien: Politische Fähnchen im Wind

337 Abgeordnete und Senatoren wechselten in Italien seit 2013 die Partei. Manche sogar mehrfach. Die vielen Wechsel sind nicht anderes als ein Verrat am Wähler.

Der König der Römer Wendehälse ist Senator Luigi Campagna: Der 68-jährige Neapolitaner hat das Kunststück fertiggebracht, in der im kommenden Februar zu Ende gehenden Legislatur in Italien die Fraktion bereits neun Mal gewechselt zu haben. Auf Platz zwei geschafft hat es der 56-jährige Senator Andrea Augello mit sechs Fraktionswechseln. Wobei zur Entlastung des Spitzenduos erwähnt werden muss, dass einige der Wechsel auch in einer Rückkehr zu einer Fraktion bestanden, die sie einige Monate zuvor verlassen hatten. Seine zahlreichen Wechsel, sagt Campagna, seien ein Zeichen seiner „großen parlamentarischen Freiheit“ und außerdem sein „gutes Recht“.

Campagna und Augello sind Extrembeispiele für ein italienisches Phänomen, das europaweit seinesgleichen sucht: In der laufenden Legislatur haben bereits 337 der 320 Senatoren und 630 Abgeordneten die Partei gewechselt und ihr politisches Fähnlein nach einem neuen Wind ausgerichtet. Wegen der verbreiteten Mehrfachwechsel kommt man auf insgesamt 526 „cambi di casacca“ („Wechsel des Mäntelchens“, wie die Italiener diese spezielle Form des politischen Opportunismus nennen). Das sind durchschnittlich zehn pro Monat. Und weil das italienische Parlament pro Woche nur während zweieinhalb Tagen arbeitet, kommt man auf einen Wechsel pro Arbeitstag.

Für die Wähler bedeutet die Inflation der Parteiwechsel: Mehr als ein Drittel der Parlamentarier, denen sie bei den Parlamentswahlen ihre Stimme gegeben hatten, politisieren nun für eine andere Partei. Wobei viele Wendehälse ihre politischen Positionen – sofern sie überhaupt solche haben – bei ihren Fraktionswechseln nicht grundlegend änderten: Viele der Wechsel ergaben sich durch Parteispaltungen. So hatte allein der Partito Democratico von Ex-Premier Matteo Renzi im vergangenen Frühling 22 Abgeordnete verloren, als sich der linke Parteiflügel abspaltete. Und manchmal sind die Parteiwechsel auch nicht freiwillig: Ein Teil der insgesamt 21 Parlamentarier von Beppe Grillos Protestbewegung, die ihre eigenen Wege gegangen sind, war vom Ex-Komiker geschasst worden.

Zu Zeiten Berlusconis waren Parlamentarier regelrecht gekauft worden

Zu Zeiten Berlusconis waren Parlamentarier mitunter regelrecht gekauft worden: Um die Regierung von Romano Prodi zu stürzen, hatte er als Oppositionsführer im Jahr 2007 einen Senator der damaligen Mitte-links-Koalition mit drei Millionen Euro bestochen, um den Seitenwechsel zu vollziehen. Ein weiteres „Parlamentarier-Shopping“ startete Silvio Berlusconi in der darauffolgenden Legislatur auch als Regierungschef, als es darum ging, seinen postfaschistischen Koalitionspartner Gianfranco Fini zu ersetzen, der wegen der Sexskandale des Premiers aus der Regierung ausgetreten war. Heute müssen die „Onorevoli“ („Ehrenwerte“, wie die Abgeordneten zu Unrecht heißen) und „Senatori“ nicht mehr gekauft werden: Es reicht, wenn in der neuen Fraktion ein Kommissionspräsidium oder ein anderer Posten winkt.

Der Opportunismus der italienischen Politiker ist letztlich die Folge einer Negativ-Auslese der politischen Elite: In Italien können die Wähler keine Präferenzstimmen an bestimmte Kandidaten abgeben, sondern müssen die Auswahl abnicken, die ihnen von den Parteizentralen vorgesetzt wird. Auf diese Weise konnte Berlusconi seine Anwälte, Steuerberater und Mätressen ins Parlament wählen lassen und sie anschließend zu Ministern machen. Auch andere Parteien haben die Tendenz, nicht die besten Köpfe auf die Wahllisten zu setzen, sondern willige Befehlsempfänger, die dem Parteichef nicht gefährlich werden können.

Die vielen Wechsel, die nichts anderes sind als ein Verrat an den Wählern, haben zusammen mit den stetigen Korruptionsskandalen und der hemmungslosen Selbstbereicherung der gut bezahlten italienischen Parlamentarier zu einer völligen Entfremdung zwischen den Politikern und den Wählern geführt. Die einst hohe Stimmbeteiligung in Italien befindet sich seit Jahren im Fall. Alarmierend ist der Vertrauensverlust bei den Jungen: 96 Prozent der 18- bis 34-jährigen Italiener haben in einer Umfrage unlängst angegeben, dass sie „gar kein“ oder „wenig“ Vertrauen in die Politik hätten. Auch das ist ein Negativrekord in der EU.

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