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Bisher ist es schwierig juristisch gegen Korruption vorzugehen.

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Abkassieren im Gesundheitssystem: Falsche Abrechnungen verursachen Schaden von bis zu 18 Milliarden Euro

Durch Betrug wird im Gesundheitswesen jedes Jahr beträchtlicher Schaden angerichtet. Welche Dimension hat das Problem – und welche Rezepte gibt es dagegen?

Der Schaden ist gewaltig, und ein wirksames Rezept dagegen nicht in Sicht. Auf bis zu 18 Milliarden Euro schätzen Experten die Summe, die der Solidargemeinschaft pro Jahr durch Korruption, Abrechnungsbetrug und Falschabrechnung im Gesundheitswesen verloren geht. Drei bis zehn Prozent der Gesundheitsausgaben gingen, so heißt es in einer Studie des European Healthcare Fraud & Corruption Network, allein dafür drauf. Nur zum Vergleich: Die politisch gerade heftig umstrittene Praxisgebühr bringt dem System gerade einmal zwei Milliarden.

Genaue Zahlen hat natürlich niemand, man ist auf Mutmaßungen angewiesen und darauf, die meist zufällig aufgedeckten Skandale als Spitze eines Eisbergs zu begreifen und irgendwie hochzurechnen. Die viertgrößte Krankenkasse KKH Allianz etwa ist im vergangenen Jahr 589 Betrügereien auf die Schliche gekommen, das Schadensvolumen lag bei 934 000 Euro. Bei sogenannten „Luftrezepten“, wenn also Ärzte und Apotheker gemeinsam für Medikamente kassieren, die gar nicht abgegeben wurden, betrug die Schadenssumme nach Ermittlerangaben pro Fall bis zu 1,5 Millionen Euro. „Je mehr man sucht, desto mehr findet man“, sagt Dina Michels, die bei der KKH Allianz die Prüfgruppe Abrechnungsmanipulation leitet. Bisher, so ihr Eindruck, werde nur ein „kleiner Prozentteil“ aufgedeckt.

An diesem Mittwoch befasst sich der Gesundheitsausschuss des Bundestages in öffentlicher Anhörung wieder mal mit dem Dauerthema. Die SPD-Fraktion hat einen Antrag vorgelegt, sie will unter anderem endlich einen Straftatbestand für „Korruptionshandlungen“ niedergelassener Vertragsärzte. Denn so seltsam das klingen mag: Bisher ist Medizinern, die etwa mit Arzneiherstellern und Apothekern kungeln, die ihre Patienten gegen Bares immer nur zu bestimmten Physiotherapeuten schicken oder sich die Zuweisung von Kranken von den Kliniken mit sogenannten „Fangprämien“ honorieren lassen, nur schwer beizukommen. Nach ärztlichem Standesrecht dürfen sie das zwar nicht, und einige Landgerichte haben auch schon entsprechend geurteilt. Doch im Grundsatz ist nach wie vor ungeklärt, ob Ärzte sich überhaupt der Korruption schuldig machen können.

Mit entsprechender Spannung warten nun alle in der Branche auf ein für dieses Frühjahr angekündigtes Urteil des Bundesgerichtshofs. Um Mediziner „korruptionsfähig“ zu machen, müssten die Karlsruher Juristen den Status des niedergelassenen Arztes umdefinieren – vom Freiberufler zum „Amtsträger“ oder Beauftragten der Krankenkassen. Denn der Korruptionsparagraf 299 im Strafgesetzbuch bezieht sich nur auf „Angestellte oder Beauftragte eines geschäftlichen Betriebs“, der Paragraf 331 auf „Vorteilsannahme“ als Amtsdelikt. Die Standesvertreter wehren sich nach Kräften. „Wollen wir Ärzte, die sich unbeeinflusst von Dritten um das Wohl von Patienten kümmern, oder wollen wir Verwaltungskräfte, die sich um die Medizin kümmern?“, fragt etwa der Berliner Ärztepräsident Günther Jonitz.

Um Mediziner „korruptionsfähig“ zu machen, müssten die Karlsruher Juristen den Status des niedergelassenen Arztes umdefinieren – vom Freiberufler zum „Amtsträger“ oder Beauftragten der Krankenkassen.
Um Mediziner „korruptionsfähig“ zu machen, müssten die Karlsruher Juristen den Status des niedergelassenen Arztes umdefinieren – vom Freiberufler zum „Amtsträger“ oder Beauftragten der Krankenkassen.

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Die Kassen dagegen machen Druck. Durch ihre Verordnungen entschieden niedergelassene Ärzte in einem Milliardenmarkt darüber, welche Pharmafirmen Geld verdienten, sagt der zuständige Vorstand des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), Gernot Kiefer. „Ärzte handeln im Auftrag der Krankenkassen, und deshalb wäre es richtig und notwendig, dass sie beim Thema Korruption nicht länger über dem Strafrecht stehen.“ Die Patienten müssten „sicher sein, dass ausschließlich medizinische und nicht monetäre Gründe für den Arzt wichtig sind, wenn er ein bestimmtes Arzneimittel verschreibt oder eine Klinik empfiehlt“.

Justiz- und Gesundheitsministerium hatten erklärt, das Urteil abwarten zu wollen. Der SPD jedoch dauert das zu lange. Die Sache liege nun seit einem Jahr beim BGH, schimpft ihr Justizexperte Edgar Franke. „Wir wollen nicht mehr warten.“

Nach dem Willen der SPD-Fraktion sollen künftig auch systematische Falschabrechnungen von Kliniken „mit spürbaren Sanktionen“ geahndet werden. Bisher liegt das finanzielle Risiko allein bei den zur Prüfung verpflichteten Krankenkassen. Behelligen sie ein Klinikum, ohne etwas zu finden, müssen sie diesem pro Fall 300 Euro zahlen. Entdecken sie einen Fehler, muss das Haus die falsch abgerechnete Summe lediglich zurückzahlen. Auch wenn man den Kliniken keine Absicht unterstelle, heißt es in dem SPD-Antrag: „Diese ungleiche Regelung schafft Anreize zur systematischen Falschabrechnung.“

Der GKV-Spitzenverband kann dies nur bestätigen. Im Jahr 2009 hätten sich mehr als 45 Prozent der 2,3 Millionen geprüften Klinikabrechnungen als überhöht erwiesen, heißt es dort. Schadenssumme: bis zu 1,5 Milliarden Euro. Einzelne Kassen kamen gar auf eine „Trefferquote“ von 57 Prozent. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft wies die hohen Zahlen zurück. Sie seien mithilfe „von wissenschaftlich fragwürdigen Methoden“ ermittelt worden und „wesentlich zu hoch angesetzt“.

Damit lässt sich aber nicht einmal mehr die Regierungskoalition beschwichtigen. Auch die Gesundheitsexperten von CDU und CSU dringen inzwischen auf Geldbußen für fehlerhafte Abrechnungen. Die Kliniken sollten den Kassen künftig nicht nur wie bisher die zu hoch abgerechnete Summe erstatten, sondern zusätzlich noch einmal die Hälfte des strittigen Betrages, heißt es in einem Antrag, der schon Anfang nächsten Jahres Gesetz sein soll. Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) unterstützt den Unionsvorstoß. Das Ministerium habe entsprechende „Formulierungshilfen“ dafür geliefert, sagte ein Ministeriumssprecher. „Es ist klar, dass dort etwas passieren muss und passieren soll.“

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