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Der Staat greift zu.

© dpa

Abschaffung der kalten Progression: Mehr Steuergerechtigkeit - aber wie?

Auf einmal ist Sigmar Gabriel für Steuersenkungen: die kalte Progression soll weg. 2011 scheiterte Schwarz-Gelb mit einem solchen Plan noch an der SPD. Was brächte ein solcher Schritt den Steuerzahlern? Wie viel würde er den Staat kosten - und wie wahrscheinlich ist er überhaupt? Hier sind Antworten.

Sie hat das Zeug zum politischen Sommerhit – die „kalte Progression“. Seit zwei Wochen steht das steuerpolitische Thema oben auf der ausgedünnten innenpolitischen Agenda. Seit Vizekanzler Sigmar Gabriel am Wochenende eine Reform der Einkommensteuer mit dem Ziel der Verringerung oder gar der Abschaffung des Effekts der kalten Progression zur Möglichkeit erklärt hat (ganz im Gegensatz zur Kanzlerin), ist es ein Koalitionsthema geworden. Möglicherweise wird am Ende dann sogar ein Regierungsprojekt daraus.

 Was ist die kalte Progression?

Kalte Progression entsteht, wenn ein progressiver Steuertarif nicht der Inflationsentwicklung angepasst wird. Die Wirkung des Effekts hängt also von der jährlichen Preissteigerung ab. Wird diese bei der Einkommensteuer nicht berücksichtigt, wachsen die Steuerzahler bei einem progressiven Tarifverlauf – in dem die Steuersätze mit der Einkommenshöhe wachsen – Jahr für Jahr in eine höhere Durchschnittsbelastung hinein, auch wenn ihre reale Kaufkraft gar nicht entsprechend steigt. Man spricht daher auch von „heimlicher Steuererhöhung“: Der Staat profitiert von Einkommenszuwächsen mehr als der Steuerzahler.

 Wie wirkt sie?

Der Staat besteuert die Bürger progressiv – vom Eingangssteuersatz von 14 Prozent (ab 8354 Euro Jahreseinkommen) bis hin zum Spitzensteuersatz von 42 Prozent, der aktuell auf jeden Cent gezahlt werden muss, der über 52881 Euro liegt (von der Reichensteuer sei hier einmal abgesehen). Je mehr man über den steuerfreien Grundfreibetrag hinaus verdient, umso höher wird wegen der Progression die durchschnittliche Steuerbelastung. Der Nettozuwachs bei einer Gehaltserhöhung ist deswegen prozentual immer geringer als das Bruttoplus. Das ist der normale Progressionseffekt, der im Übrigen bei geringeren Einkommen stärker wirkt als bei höheren – weil die Progression nach dem Grundfreibetrag zunächst steiler verläuft als später. Die Wirkung der Inflation, die Geldentwertung also, kommt dann hinzu. Ist die Inflation höher als die Nettosteigerung, kommt es sogar zu einem geringeren Realeinkommen – die Kaufkraft sinkt also. Dann haben normale und kalte Progression den Zuwachs sozusagen weggefressen. Ein geringeres nominales Nettoeinkommen, also weniger Geld in der Tasche, wie bisweilen zu lesen ist, bewirkt die kalte Progression aber nicht – dann müsste eine Gehaltserhöhung ja mit mehr als hundert Prozent besteuert werden.

 Zwei Rechenbeispiele

Ein Beispiel, errechnet mit dem Rechner auf „www.steuertipps.de“: 20000 Euro Jahreseinkommen brutto, der Gehaltszuwachs drei Prozent. Die Steuerbelastung wächst von 2634 auf 2796 Euro, das sind 6,15 Prozent mehr. Bleibt ein Nettoplus von 2,52 Prozent. Bei einer Inflation von zwei Prozent käme ein reales Einkommensplus von 0,52 Prozent heraus, bei drei Prozent Geldentwertung ein reales Minus von einem halben Prozent. Bei 60000 Euro und drei Prozent Gehaltserhöhung steigt die Steuerlast um 4,45 Prozent von 16961 auf 17717 Euro. Macht ein Netto-Plus von 2,42 Prozent. Real sind es bei zwei Prozent Inflation 0,42 Prozent.

 Wen trifft die kalte Progression besonders?

Sie trifft alle, keineswegs nur die unteren und mittleren Einkommen. Dennoch steckt in der Nichtanpassung des Steuertarifs an die Preis- oder auch Einkommensentwicklung ein beträchtliches Ungerechtigkeitspotenzial: Weil zum einen Geringverdiener mit jeder Lohnsteigerung näher an den Spitzensteuersatz heranrücken (zumal eben die Progression gerade am Anfang sehr steil verläuft), und weil bei denen, die ihn schon erreicht haben, der Anteil des Einkommens wächst, der mit 42 Prozent besteuert wird. Und das, obwohl die steuerliche Leistungsfähigkeit kaum zunimmt. Die Kaufkraft wird so schrittweise gemindert. Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung hat errechnet, dass wegen der Progression (der normalen wie der kalten) die Einkommensteuer um 1,7 Prozent steigt, wenn die Einkommen um ein Prozent wachsen. Den Anteil der kalten Progression daran beziffert er auf 0,7 Punkte.

Wie kann man die kalte Progression verhindern?

Ganz einfach: indem man den Steuertarif „auf Räder setzt“. Das bedeutet, ihn permanent an die Inflationsentwicklung anzupassen. Am besten würde das wohl jährlich geschehen, jedenfalls machen das viele andere Staaten so: die USA, Großbritannien, Kanada, Niederlande, Frankreich, Schweden und auch die Schweiz (wo das sogar die Verfassung verlangt). Eine andere Variante wäre, den Tarif der allgemeinen Einkommensentwicklung anzupassen. So machen es nach einer Übersicht des Bundes der Steuerzahler die Belgier, die Norweger und die Dänen. Auch der Grundfreibetrag müsste laufend erhöht werden und nicht erst dann, wenn es das Verfassungsgericht verlangt wie zuletzt. Damit würde sich die unregelmäßige Anpassung durch sporadische Steuersenkungen erübrigen, die streng genommen gar keine waren, sondern nur die Rücknahmen stiller Steuererhöhungen. Die Regierung müsste bei einer solchen Regelung also an die Steuersätze ran, um Einnahmen zu erhöhen, statt sich auf die „stille Tour“ über die kalte Progression zu bedienen. Auch die Abschaffung der progressiven Einkommensteuer und der Übergang zu einem einheitlichen Steuertarif (Flat Tax) wäre ein Weg – allerdings gilt das als sozial unausgewogen, weil das Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit (wer mehr verdient, hat höhere Steuersätze) verlassen würde.

 Was würde ein Ende der kalten Progression den Staat kosten?

Die schwarz-gelbe Koalition hatte 2011 einen Gesetzentwurf zum Abbau der kalten Progression vorgelegt, der dann am Widerstand der SPD-geführten Länder im Bundesrat scheiterte. Damals bezifferte die Bundesregierung den jährlichen Einnahmeverlust für Bund und Länder (die sich ja die Einkommensteuer teilen) auf schätzungsweise sechs Milliarden Euro. Das ist ein hohe Summe, wäre aber zu stemmen. Da den Bürgern mehr Kaufkraft bliebe, wäre auch ein Teil dieser Einnahmeausfälle durch höhere Umsatzsteuer- und dann auch Einkommensteuereinnahmen gegenfinanziert. Gabriel glaubt, dass der Mindestlohn zu höheren Einnahmen führt, womit dann der Ausgleich zum Teil bezahlt werden könnte.

 Wie wahrscheinlich ist eine politische Lösung?

Bundeskanzlerin Angel Merkel sperrt sich gegen eine Neuregelung, Schuldenverringerung und Investitionen gingen vor. In den Ländern wird ein Abbau der kalten Progression nach wie vor eher abgelehnt, vor allem mit Verweis auf die Schuldenbremse. Allerdings zeigten sich mehrere Ministerpräsidenten und Finanzminister in den letzten Tagen offen dafür, wenn es einen Ausgleich für die Landeshaushalte gebe. Für Merkel ist auch die geringe Inflation ein Grund, die Sache jetzt nicht anzugehen. Gegner einer Reform verweisen zudem darauf, dass die Entlastung des einzelnen Bürgers nur sehr gering sei, der Verlust für den Staat dagegen groß. Aber was ist in Zeiten, in denen viele Arbeitnehmer gar keine realen Einkommenszuwächse mehr kennen, gering, was ist viel? Ein Ehepaar mit mittlerem Einkommen könnte ohne kalte Progression in diesem Jahr einmal oder zweimal öfter gut essen gehen. Das mag nicht viel sein für das Ehepaar. Wenn das aber Millionen Paare tun, ist es gesamtwirtschaftlich eine ganz andere Hausnummer. Über mehrere Jahre hinweg summiert sich die Wirkung der kalten Progression natürlich – dann ist man schnell bei einer Woche Urlaub angelangt, die einem der Staat „heimlich“ wegbesteuert hat.

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