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Die Kanzlerin wirkte bei ihrer Rede zum neuen Griechenland-Hilfspaket wenig emphatisch.

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Update

Abstimmung über Griechenlandhilfe: Merkel verfehlt Kanzlermehrheit

Der Bundestag hat dem zweiten Rettungspaket für Griechenland zugestimmt, jedoch ohne die symbolische Kanzlermehrheit. Für die Opposition ein Zeichen von "Kanzlerinnendämmerung".

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Bei der Abstimmung über das zweite Rettungspaket für Griechenland hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Montag im Bundestag eine Schlappe erlitten. Zwar nahm eine klare Mehrheit der Abgeordneten den Antrag an, doch 20 Abgeordnete von Union und FDP verweigerten die Zustimmung. Das Hilfspaket im Volumen von 130 Milliarden Euro verfehlte damit knapp die symbolisch wichtige Kanzlermehrheit.

Vor dem Votum hatte Merkel in einer Regierungserklärung vor den Risiken eines Neins zu den Hilfen für Griechenland gewarnt. „Niemand kann abschätzen, welche Folgen eine ungeordnete Insolvenz für uns alle und auch für die Menschen in Deutschland hätte“, sagte sie und erteilte „Abenteuern“ unter Verweis auf ihren Amtseid eine Absage. Merkel gab aber auch zu: „Eine hundertprozentige Erfolgsgarantie kann niemand geben.“

Die Kanzlerin kündigte zudem an, dass Deutschland seinen Kapitalanteil für den ständigen Euro-Rettungsfonds ESM schneller einzahlen wird: In diesem Jahr werde Berlin die erste Hälfte in Höhe von elf Milliarden Euro überweisen, im nächsten Jahr den Rest. Dadurch solle der Fonds sein volles Volumen in zwei Jahren und nicht wie zunächst geplant erst in fünf Jahren bekommen. Für den Bundeshaushalt bedeutet das aber für die nächsten zwei Jahre eine Zusatzbelastung.

Scharfe Kritik am Kurs der Koalition übte der frühere Finanzminister Peer Steinbrück. Merkel verschweige, dass Griechenland auf absehbare Zeit hinaus nicht wieder auf eigenen Beinen werde stehen können. Die Hellas-Rettung sei heute wieder genau am gleichen Punkt angekommen wie bei der Verabschiedung des ersten Hilfspakets 2010, sagte der SPD-Politiker. Die Strategie des Zeit-Kaufens sei „gescheitert“.

Für die Griechenlandhilfen stimmten trotzdem in namentlicher Abstimmung insgesamt 496 Abgeordnete, auch SPD und Grünen unterstützten das Paket aus Umschuldungs- und Kredithilfen mit großer Mehrheit. Die Koalition erreichte mit 304 Stimmen eine eigene Mehrheit, verfehlte aber die Kanzlermehrheit von 311 Stimmen. Von den 90 Nein-Stimmen kamen die meisten aus den Reihen der Linkspartei.

Der designierte FDP-Generalsekretär Patrick Döring schob die Schuld am Verfehlen der Kanzlermehrheit auf die Union. „Wir sehen mit Sorge, dass die Zustimmung zum Euro-Kurs der Bundesregierung innerhalb der Unionsfraktion ganz offensichtlich kontinuierlich schwindet“, sagte er dem Tagesspiegel. Die Opposition wertete das Votum als Zeichen des Vertrauensverlusts für Merkel in den eigenen Reihen. „Der Zerfall der Koalition ist in vollem Gange. Inzwischen ist die Grenze zur Handlungsunfähigkeit erreicht“, sagte der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier dem Tagesspiegel. „Merkels Autorität ist schwer beschädigt.“ Nach ihrer Niederlage bei der Kür des Kandidaten für das Bundespräsidentenamt folge jetzt die Aufkündigung der Gefolgschaft in der Griechenlandpolitik. „Nicht einmal das Kabinett folgt ihr“, sagte Steinmeier. „Das Vertrauen ist weg.“ Die Grünen-Fraktionschefs Jürgen Trittin und Renate Künast erklärten: „Merkels Kanzlerschaft erodiert. Jetzt ist Kanzlerinnendämmerung.“

Vor der Sondersitzung des Bundestages hatte Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) seine Forderung relativiert, Griechenland durch ein attraktives Angebot zum Austritt aus dem Euro zu bewegen. Nachdem sich Merkel durch ihren Sprecher klar von ihrem Kabinettsmitglied distanziert hatte, versicherte Friedrich, es gehe ihm lediglich um einen Weg für den Fall, dass auch das zweite Hilfspaket nicht den gewünschten Erfolg bringe. Diesem Paket werde er zustimmen, weil es „vorläufig“ die beste Lösung biete.

Unionspolitiker reagierten gelassen auf den Verlust der Kanzlermehrheit. „Für Kanzlerin Angela Merkel bedeutet das Ergebnis die Gewissheit, dass weiterhin eine ganz große Mehrheit in der eigenen Koalition und im Bundestag insgesamt hinter ihrer Politik in der Eurokrise steht“, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Peter Altmaier (CDU). Die Koalition habe mit einem Vorsprung von 19 Stimmen eine deutliche eigene Mehrheit erreicht und sei nicht auf Stimmen aus der Opposition angewiesen gewesen, betonte Altmaier. "Das Ziel der Koalition war von Anfang an die eigene Mehrheit gewesen." Aus diesem Grund habe man etwa auch darauf verzichtet, kranke Abgeordnete unter Gefahren für ihre Gesundheit ins Parlament zu holen. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe betonte ebenfalls die klare Koalitionsmehrheit bei der Abstimmung. „Zudem hat die Vorlage der Bundesregierung und damit der Kurs der Bundeskanzlerin eine breite Mehrheit im Bundestag bekommen. Das ist eine gute Nachricht für die Stabilität unserer Währung.“

Die Kanzlermehrheit ist eine spezielle Form der Mehrheit

Die Kanzlermehrheit beschreibt die Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages. Derzeit gehören 620 Abgeordnete dem Parlament an, die Kanzlermehrheit liegt damit bei 311 Stimmen. Diese Stimmzahl wird beispielsweise bei der Wahl des Bundeskanzlers benötigt, weshalb man auch von Kanzlermehrheit spricht. Derzeit stellen die Regierungsfraktionen von CDU/CSU und FDP 330 Abgeordnete und liegen damit 19 Stimmen über der Kanzlermehrheit. Am Montag stimmten sogar 20 Abgeordnete von Union und FDP mit Nein oder enthielten sich. Zudem waren sechs Parlamentarier des Regierungsbündnisses wegen Dienstreisen oder Krankheit nicht anwesend. Für normale Gesetzesbeschlüsse reicht eine einfache Mehrheit, also die Mehrheit der Stimmen der Abgeordneten, die bei einer Abstimmung mit Ja oder Nein stimmen. Stimmenthaltungen werden dabei nicht berücksichtigt. Diese Form der Mehrheit wurde bei dem Griechenland-Paket von Union und FDP erzielt.

Formal war eine Kanzlermehrheit bei der Abstimmung über das Griechenland-Paket nicht notwendig. Symbolischen Wert für das Klima in der schwarz-gelben Koalition hat sie dennoch. Insbesondere vor dem Hintergrund des ohnehin angespannten Verhältnisses zwischen Union und FDP seit der Nominierung von Joachim Gauck. Auch bei dem Thema Griechenland-Hilfen gibt es Kritiker des Regierungskurses - in allen Regierungsfraktionen.

Folgende Abgeordnete sind Angela Merkel nicht gefolgt: CDU: Veronika Bellmann (Nein), Wolfgang Bosbach (Nein), Thomas Dörflinger (Nein), Alexander Funk (Nein), Christian Hirte (Enthaltung), Manfred Kolbe (Nein), Carsten Linnemann (Nein), Hans-Georg von der Marwitz (Enthaltung), Christian Freiherr von Stetten (Nein), Klaus-Peter Willsch (Nein). CSU: Herbert Frankenhauser (Nein), Peter Gauweiler (Nein), Paul Lehrieder (Nein), Thomas Silberhorn (Nein), Stephan Stracke (Nein). FDP: Jens Ackermann (Nein), Sylvia Canel (Nein), Erwin Lotter (Enthaltung), Frank Schäffler (Nein), Torsten Heiko Staffeldt (Nein).

Die Opposition spricht von einer "herben Niederlage" für Kanzlerin Angela Merkel (CDU). "Jetzt ist Kanzlerinnendämmerung", sagten die Fraktionsvorsitzenden Jürgen Trittin und Renate Künast am Montagabend. Es offenbare die ganze Handlungsunfähigkeit der schwarz-gelben Koalition.

Es ist bereits das zweite Hilfsprogramm für das angeschlagene Euro-Land seit Mai 2010. Als Gegenleistung für die Milliardenhilfen bis Ende 2014 hat sich Athen zu einem scharfen Spar- und Reformkurs verpflichtet. Wichtige Punkte wie die Beteiligung der Privatgläubiger an einem Schuldenschnitt sowie die Hilfe des Internationalen Währungsfonds (IWF) sind aber noch offen. Vor der Abstimmung überraschte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit dem Angebot, dass Deutschland den künftigen Euro-Rettungsschirm ESM weit schneller mit Kapital ausstatten will als bisher geplant.

Und vielleicht lag es ja auch an einem uninspirierten Auftritt von Angela Merkel, das doch deutlich mehr schwarz-gelbe Abgeordnete Merkel die Zustimmung verweigerten als von vielen gedacht. Schon zu Beginn ihrer Regierungserklärung wirkte Merkel gehetzt. Wieder musste sie im Deutschen Bundestag eine Regierungserklärung zur Rettung Griechenlands abgeben. Und wieder musste sie um die eigene schwarz-gelbe Mehrheit bangen. Zu recht wie sich nun herausstellte. Dabei wurde allgemein erwartet, dass die Mehrheit steht. Aber so richtig sicher kann man sich bei dieser Koalition derzeit eben nicht sein. Zumal dann, wenn kurz vor der Abstimmung auch noch einer aus der Reihe tanzt, der eigentlich nicht als Quertreiber gilt: Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU). Er hatte am Wochenende Griechenland ein Austritt aus der Euro-Zone nahe gelegt. Kurz vor der Regierungserklärung hat Merkel über ihren Regierungssprecher Steffen Seibert noch ausrichten lassen, dass Friedrichs Einlassungen keine Linie der Bundesregierung sei. Kritik kam auch aus der CDU und der FDP. Friedrich ruderte darauf hin zurück. "Wir gehen als Bundesregierung davon aus, dass es gelingen kann, Griechenland im Euroraum zu sanieren und wettbewerbsfähig zu machen", sagte der CSU-Politiker am Montag vor der Bundestagsabstimmung über das zweite Rettungspaket für Griechenland. "Ich zweifele überhaupt nicht am Rettungskurs der Kanzlerin." Der Minister kündigte an, im Bundestag für das Rettungspaket im Volumen von 130 Milliarden Euro stimmen zu wollen.

Als Friedrich dann wieder in der Spur war, warb Merkel für das zweite Griechenland-Hilfspaket. Sie spricht von "Wettbewerbesfähigkeit", die Griechenland wieder bekommen müsse. Sie sagt auch, dass die Fragen, ob es der Euro-Zone ohne Griechenland nicht besser gehen würde, berechtigt seien. "Aber in der Abwägung von Chancen und Risiken überwiegen die Chancen", sagte Merkel. Und der anschließende Satz muss wie eine kleine Watschen, wie man in Bayern sagt, für Friedrich wirken. "Als Bundeskanzlerin soll und muss ich ab und zu Risiken eingehen, Abenteuer aber darf ich nicht eingehen, das verbietet mir mein Amtseid", sagte sie. Ein Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone sei für sie ein unkalkulierbares und unverantwortbares Abenteuer und Risiko. Jubelstürme erntet Merkel für ihre Rede nicht. Da ist keine Empathie, kein Pathos. Regierungserklärungen zum Thema sind zum Pflichtprogramm geworden. Mittlerweile wirken selbst Sätze wie "Scheitert der Euro, scheitert Europa" oder "Wir blicken in den Abgrund" merkwürdig routiniert. Emotionslos ist Merkels Auftritt. Merkel bekommt zwar immer wieder Applaus, aber auch nicht mehr als unbedingt nötig. Merkel weiß wohl selbst, dass sie solche Reden nicht oft halten kann. Für ein drittes Griechenland-Hilfspaket, das selbst Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble gar nicht ausschließen will, wird so ein Auftritt als Argumentationshilfe für die schwarz-gelben Abgeordneten nicht ausreichen. Bei Merkels Regierungserklärung liegt der Schwerpunkt mehr auf einer nüchternen "Erklärung" als auf "Regieren".

Merkel lobt das Bemühen Griechenlands, "es gibt Fortschritte", um im selben Augenblick zu sagen, dass Griechenland seine Zusagen oft nicht einhalte. Sie wolle auch nichts schön reden, was auch gar nicht geht, weil ihr die blumigen Worte und wohl auch die Argumente fehlen. Merkels Rede ist ein kleiner Ritt durch die Pakete - Griechenlands Rettungspakete aber auch den europäischen Fiskalpakt, über den an diesem Tag aber nicht abgestimmt wird.

Merkel kündigte an, den dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM schneller auf Touren zu bringen als bislang geplant. Deutschland sei bereit, schon in diesem Jahr mit elf Milliarden Euro die Hälfte seines Anteils in den Fonds überzuführen, sagte Merkel. Im nächsten Jahr werde Deutschland dann die zweite und letzte Tranche von ebenfalls elf Milliarden Euro bezahlen. Voraussetzung dafür sei aber, dass die anderen Eurostaaten dieser Idee folgten. Damit wäre die Schlagkraft des ESM innerhalb von zwei Jahren und nicht wie bislang geplant erst in fünf Jahren voll hergestellt, sagte Merkel. Vorgesehen war bislang, dass Deutschland seinen Anteil von 22 Milliarden Euro in fünf Tranchen dem ESM zur Verfügung stellt. Der Fonds soll nach gegenwärtigen Planungen insgesamt 500 Milliarden Euro umfassen. Die Europartner, aber auch Staaten wie die USA oder China fordern eine Aufstockung des Fonds. Die Bundesregierung lehnt dies ab. Zum Gesamtvolumen des ESM sagte Merkel in ihrer Regierungserklärung nichts.

Gregor Gysis merkwürdiger Versailles-Vergleich

Etwas emotionaler und lauter ging es im Plenum zu, als für die Opposition der ehemalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) und für die Liberalen Fraktionschef Rainer Brüderle ins Rennen gegangen sind. Steinbrück hat die bisherige Hilfe für das finanziell angeschlagene Griechenland für wirkungslos erklärt. Fast zwei Jahre nach der Verabschiedung des ersten Hilfspakets für Athen im Mai 2010 stehe man "exakt am selben Punkt wie vor zwei Jahren", sagte er in seiner Erwiderung auf die Regierungserklärung von Angela Merkel. Das erste Programm sei "auf ganzer Linie gescheitert" und daran trage die Bundesregierung ein "gerüttelt Maß an Mitschuld", kritisierte Steinbrück. Das Krisenmanagement der Regierung laufe immer nach dem Motto: "Zu spät, zu wenig und vor allem zu ungefähr." Steinbrück kündigte an, seine Fraktion werde dem zweiten Hilfspaket dennoch zustimmen. Das entspreche dem wirtschaftlichen und dem politischen Interesse Deutschlands. Außerdem gehe es "um das Ganze", also um Europa insgesamt. Zugleich kritisierte der SPD-Politiker aber, das neue Paket sei "auf sehr dünnes Eis gesetzt". Viele Details seien unklar, die Informationen seien "sehr, sehr lückenhaft". Zudem werde Athen vermutlich deutlich länger öffentliche Unterstützung brauchen, als die Bundesregierung Glauben machen wolle. Steinbrück erntete viel Applaus für seinen Auftritt.

Aber auch Rainer Brüderle konterte den Angriffen von Steinbrück und wurde dafür deutlich lauter beklatscht als zuvor Merkel. Brüderle hat das Krisenmanagement von Kanzlerin Angela Merkel verteidigt. Merkel, Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) und die ganze Regierung leisteten "europapolitische Schwerstarbeit", sagte Brüderle. Die Opposition solle dies zur Kenntnis nehmen. Stattdessen wollten SPD und Grüne immer neue Schulden in Europa machen und gemeinsame Staatsanleihen (Eurobonds) einführen. "Sie wollen die Probleme nur mit Geld zuschütten." Griechenland sei ein abschreckendes Beispiel für "den schuldenfinanzierten Wohlfahrtsstaat in seiner ganzen Pracht", sagte Brüderle. Die Griechen müssten nun Maß halten beim Schuldenmachen, bei Demonstrationen und im Ton gegenüber den europäischen Partnern. Auch sei unklar, welchen Kurs die SPD nehme - "je nachdem, welcher Kanzlerkandidat gerade spricht".

Für Verwirrung sorgte der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, Gregor Gysi. Er kritisierte in seiner Rede die "Konsens-Sauce" von SPD, Grünen und Koalition.
Seine Partei will das Paket ablehnen. Das war soweit nicht überraschend, sein Vergleich mit dem Versailler-Vertrag hat dagegen für Kopfschütteln gesorgt - vor allem bei den Grünen. Denn Gysi verglich die Griechenland-Rettung mit dem Vertrag von Versailles, der Reparationszahlungen für Deutschland festlegte, das den Ersten Weltkrieg angefangen und verloren hatte. Laut Gysi habe dieser Vertrag auch für das Aufkommen Hitlers gesorgt. "Da waren die Westmächte nach dem Zweiten Weltkrieg schlauer", sagte Gysi. Und er forderte: "Griechenland braucht einen Marshall-Plan und keinen Versailler-Vertrag." (Mit Reuters, dpa)

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