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Italiens Premierminister Matteo Renzi kämpft für eine Vereinfachung von Gesetzgebung und Reformen.

© Reuters

Abstimmung und Regierungschef Renzi: Worum es beim Verfassungsreferendum in Italien geht

Von einem „Renzirendum“ über einen „Italexit“ ist die Rede. Doch was genau wird am Sonntag in Italien eigentlich entschieden? Fragen und Antworten.

In Italien wird am Sonntag über eine neue Verfassung abgestimmt. International wird das nach den letzten Umfragen unvorhersehbare Ergebnis mit Spannung erwartet: Es gilt als weitere Entscheidung zwischen etablierten Parteien und populistischen Kräften in Europa ebenso wie die zeitgleiche Bundespräsidentenwahl in Österreich zwischen Norbert Hofer als Kandidat der rechtspopulistischen FPÖ und dem parteiunabhängig kandidierenden Grünen Alexander Van der Bellen. Italien selbst könnte eine Ablehnung der Reformen eine Regierungs- und auch eine erneute Finanzkrise bringen.

Worin besteht die grundsätzliche Bedeutung der Abstimmung?

Vordergründig geht es bei der Volksabstimmung nur um eine Verfassungsreform, tatsächlich aber längst um viel mehr: das politische Überleben von Regierungschef Matteo Renzi, die Stabilität des italienischen und europäischen Bankensystems, den Zusammenhalt der Euro-Zone und den Vormarsch der Populisten. Renzi hat über seinen Rücktritt spekuliert, falls die Italiener gegen die Änderung der Verfassung stimmen, die nach seiner Meinung Reformen bisher zu kompliziert macht. Die politischen Gegner des 41-Jährigen haben daraus ein Votum über das große Ganze gemacht. In letzten Umfragen vor zwei Wochen lagen sie um 11 Prozentpunkte vorn.

„Das Verfassungsreferendum ist Italiens ,Brexit’-Moment“, spitzt Neil Wilson vom Finanzdienstleister ETX Capital zu: An den Finanzmärkten wird befürchtet, dass die drittgrößte Ökonomie der Euro-Zone nach einem „No“ in Schwierigkeiten kommt und den Rest des Währungsgebietes mit schwächt. In den letzten Tagen vor der Volksabstimmung kletterte die Risiko-Prämie, die der italienische Staat Käufern seiner Schuldpapiere zahlen muss, bereits auf den höchsten Stand seit Mitte 2015. Die Investmentberatung Sentix bezifferte die Wahrscheinlich eines „Italexit“ aus der Euro-Zone zuletzt mit 19,3 Prozent.

Renzis innenpolitischer Hauptgegner Beppe Grillo, Chef der eurofeindlichen 5-Sterne-Bewegung, wetterte: „Die Welt verändert sich. Wir werden ihnen unser ,Nein’ ins Gesicht schleudern. Das ist kein politisches ,Nein’, sondern ein existenzielles und soziales ,Nein’ – unsere Welt wird kommen!“ und bezeichnete Renzi als „Wildsau“, die um ihr Leben kämpfe.

Was geschieht, wenn Italiens Bürger der Verfassungsreform zustimmen?

Dann wird das politische System Italiens grundlegend umgebaut: Die zwei bisher gleichberechtigten Kammern des Parlaments würden reformiert. Die kleine Kammer des Senats würde von 315 auf 100 Mitglieder verkleinert und in eine Regionalkammer verwandelt. Zuständig wäre sie dann nur noch für Gesetze, die die Regionen auch direkt betreffen – etwa wie in Deutschland der Bundesrat. Es wäre keine Blockade von Gesetzen mehr möglich, indem sie wie in der Vergangenheit immer wieder zwischen Senat und Abgeordnetenkammer hin und her geschoben werden. Insgesamt würde die Stellung des Regierungschefs deutlich gestärkt.

Durch eine Zustimmung würde Ministerpräsident Matteo Renzi auch politisch direkt gestärkt: Er stünde vor einer breiten Front von Referendumsgegnern aus allen politischen Parteien, auch aus seiner eigenen Demokratischen Partei, als Sieger da. Für den Fall hat er bereits Aufräumarbeiten angekündigt: Man müsse dringend strategische Konzepte für die Flüchtlingspolitik finden, dann die Schwierigkeiten in der Bankenbranche angehen und das Wirtschaftswachstum ankurbeln, sagte er der Zeitung „Repubblica“.

Renzi könnte die Gelegenheit auch nutzen und um ein Jahr vorgezogene Neuwahlen im Jahr 2017 ausrufen. Dafür müsste er jedoch auch noch das Wahlgesetz ändern – dessen bereits im Mai vom Parlament beschlossene Reform bei der Abstimmung indirekt eine wichtige Rolle spielt, auch ohne dass sie den Bürgern am Sonntag direkt zur Entscheidung vorliegt.

Was hat das Wahlrecht mit dem Verfassungsreferendum zu tun?

Ohne die geplante Verfassungsänderung kann es nicht umgesetzt werden. In der Abgeordnetenkammer soll die Partei, die mit mindestens 40 Prozent der Stimmen als stärkste Kraft aus einer Wahl hervorgeht (oder aus einer Stichwahl unter den zwei stärksten Parteien), automatisch rund 55 Prozent der Sitze in der Kammer erhalten – 340 von 630 Sitzen. Durch diese „Mehrheitsprämie“ bekommt das Abgeordnetenhaus eine Machtposition, die vom neuen, weitgehend entmachteten Senat nicht mehr ausbalanciert werden könnte. Das führt zu einer stabilen Regierungsmehrheit. Der Nachteil: Der Wählerwille wird verzerrt. Künftig könnte ein Premier mit absoluter Mehrheit regieren, dessen Partei bei der Wahl kaum mehr als 20 Prozent der Stimmen erhalten hat.

Wird die Verfassungsreform abgelehnt, müsste sich eine neue Regierung zuallererst um eine Neuregelung des Verhältnisses zwischen den beiden Kammern kümmern.

Was passiert, wenn das „Nein“ gewinnt?

Italien wird kaum untergehen. Aber Renzi hatte es von Anfang an klar gesagt: Seine Regierung sei dazu da, um in Italien die überfälligen Reformen anzupacken. „Aber wenn die Italiener diese Veränderungen nicht wollen, dann braucht es meine Regierung nicht – dann gehen wir eben wieder nach Hause.“ Eine Ablehnung wäre auch seine persönliche politische Niederlage. Zwar hat der Premier die Aussage inzwischen etwas relativiert – doch viele Beobachter halten seinen Rücktritt für möglich bis wahrscheinlich.

Und es sind zum Teil apokalyptische Szenarien, die für diesen Fall entworfen werden: Bei Neuwahlen könnte die Protestbewegung von Beppe Grillo gewinnen, die den Austritt aus der Einheitswährung Euro fordert. Dann drohe ein „Italexit“ und wegen der hohen Verschuldung Italiens und der Probleme der Banken vielleicht auch eine neue, nie dagewesenen Finanzkrise.

Konkret würde sich bei einem Nein zur Reform allerdings erst einmal gar nichts ändern: Italien würde in diesem Fall einfach seine bisherige Verfassung und sein bisheriges politisches System beibehalten, mit dem sich das Land unter sehr unterschiedlichen Regierungen – auch unter dem Populisten und Multimilliardär Berlusconi – leidlich entwickelt hat und immerhin zum zweitgrößten EU-Nettozahler nach Deutschland aufgestiegen ist. Natürlich würde ein Nein zur Verfassungsreform aber das Signal aussenden, dass Italien unreformierbar bleibt. Das mögen zwar die Finanzmärkte nicht, aber neu wäre diese Erkenntnis nicht wirklich.

Wäre eine Ablehnung mit dem Sieg der italienischen Populisten gleichzusetzen?

Es wäre ein Achtungserfolg – den sie allerdings nicht allein erzielt hätten: Referendumsgegner gibt es in allen Parteien. Und auch im Fall eines Rücktritts Renzis würde die populistische Anti-Establishment-Truppe von Beppe Grillo die Macht nicht automatisch übernehmen.

Beppe Grillo, Gründer und Führungsfigur der Anti-Establishment-Bewegnug "Fünf Sterne" hat das Verfassungsreferendum zur Abstimmung über die Zukunft Italiens, Europas und der Politik überhaupt stilisiert.
Beppe Grillo, Gründer und Führungsfigur der Anti-Establishment-Bewegnug "Fünf Sterne" hat das Verfassungsreferendum zur Abstimmung über die Zukunft Italiens, Europas und der Politik überhaupt stilisiert.

© Massima Percossi/dpa

Bevor Staatspräsident Sergio Mattarella Neuwahlen anordnen könnte, müsste das Parlament erst ein neues Wahlgesetz erlassen: Das aktuelle, schon revidierte Wahlgesetz geht davon aus, dass der Senat nicht mehr direkt gewählt würde; deshalb kennt das neue Gesetz nur Regeln für die Wahl der Abgeordnetenkammer. Aber bei einer Ablehnung der Verfassungsreform würde die kleine Kammer ja in der bisherigen, direkt zu wählenden Form weiterexistieren.

Und wenn Renzi zurücktritt?

Bei einem Rücktritt Renzis hätte Mattarella zwei Möglichkeiten: Er könnte die Demission annehmen, Renzi aber mit einer leicht veränderten Regierungsmannschaft gleich wieder ins Parlament schicken, wo er sich erneut einer Vertrauensabstimmung zu stellen hätte. Ein solches Votum würde Renzi höchstwahrscheinlich gewinnen, da außer Grillos „Grillini“ und der Lega Nord niemand ein Interesse an vorgezogenen Neuwahlen hat. Die andere Möglichkeit: Der Staatspräsident könnte eine unabhängige Persönlichkeit mit der Bildung einer Übergangsregierung beauftragen. Neuwahlen könnten frühestens im nächsten Frühjahr stattfinden; sehr viel wahrscheinlicher wäre aber ein Wahltermin im Herbst 2017. Die nächsten regulären Wahlen würden 2018 stattfinden.

Renzis Vorgänger als Parteichef des Partito Democratico, Pier Luigi Bersani, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, was von vielen Reformbefürwortern gerne verdrängt wird: Die Gefahr einer Machtübernahme Grillos wäre weder bei einem Ja noch bei einem Nein gebannt, sondern allenfalls aufgeschoben. Denn es gibt nicht die geringsten Anzeichen dafür, dass die populistischen Kräfte in Italien bis 2018 schwächer werden könnten. Bei einer angenommenen Reform, warnt Bersani, würde auch ein künftiger Premier der Populisten Grillos über weitaus mehr Macht verfügen als mit dem heutigen System mit seinen „checks and balances“: Er würde in der Abgeordnetenkammer dank Mehrheitsprämie automatisch mit absoluter Mehrheit regieren – und nicht mehr von einem gleichberechtigten Senat mit möglicherweise unterschiedlichen Mehrheitsverhältnissen gebremst. „Ich verstehe nicht, wie Renzi diese Gefahr außer Acht lassen kann – meiner Meinung nach fahren wir so voll gegen die Wand“, sagt Bersani. (mit rtr/AFP)

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