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Trauer um die Opfer mit einer weißen Rose in der Hand, in Haltern am See

© dpa

Absturz des Germanwings-Flugs 4U9525: Es tritt eine andere Wahrheit zutage

Der Staatsanwalt in Paris hat neue Ermittlungsergebnisse zum Absturz des Germanwings-Fluges 4U9525 präsentiert. Heute weiß man: Andreas Lubitz, der Todes-Pilot, war flugunfähig. Das klang einst noch ganz anders. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Lorenz Maroldt

Im Fall des Germanwings-Flugs 4U9525 liegen die Fakten jetzt auf dem Tisch, ermittelt vom französischen Staatsanwalt Brice Robin. Da die öffentliche Aufregung längst weitergezogen ist und die Angehörigen in ihrem Schmerz weitgehend alleine zurückgelassen hat, drehen wir den Film noch mal zurück, zur besseren Erinnerung.

Wir sehen eine Pressekonferenz, zwei Tage nach dem Absturz vom 24. März, im Mittelpunkt der Chef der Germanwings-Muttergesellschaft Lufthansa, Carsten Spohr. Er bestätigt die erschütternde Meldung, dass der Kopilot die Maschine absichtlich in den Alpenberg Estrop steuerte.

Auf Spohr lastet ein enormer Druck in diesem Moment. Er muss schnörkellos klar sein bis zur Kälte, was die Fakten betrifft, muss sein ehrliches Mitgefühl zeigen, ohne rührselig zu werden, muss sich ohne Wenn und Aber vor seine Piloten stellen, vor das Ausbildungssystem, vor das Sicherheitssystem seines Unternehmens. Er kämpft mit sich, gegen die Tränen, für sein Unternehmen, dem nicht nur ein Rufschaden, sondern eine wirtschaftliche Katastrophe droht. Spohr gelingt alles perfekt.

Er sagt: „Er (der Kopilot) war hundert Prozent flugtauglich ohne jegliche Einschränkung, ohne jegliche Auflagen. Die fliegerischen Leistungen waren einwandfrei ohne jede Auffälligkeit.“ Spohr weist auf eine „längere Unterbrechung“ während der Ausbildung hin, danach aber sei die Eignung „noch mal festgestellt“ worden, und: Es gehöre „zur DNA“ der Lufthansa, dass in den Auswahlverfahren gerade nicht nur technische und kognitive Fähigkeiten untersucht werden, sondern auch „viel Raum für die psychische Eignung“ gelassen werde.

Der Kopilot hatte in den vergangenen fünf Jahren 41 unterschiedliche Ärzte konsultiert

Spohrs Fazit: Das Unternehmen hat alles getan – was passiert ist, war „nicht vorstellbar“. Auf den Tag elf Wochen danach erklärt der ermittelnde Staatsanwalt: Andreas Lubitz war nicht mehr in der Lage, ein Flugzeug zu fliegen. Er war schwer depressiv. Er war im Monat des Absturzes an zehn von 24 Tagen krankgeschrieben. Er hatte in den vergangenen fünf Jahren 41 unterschiedliche Ärzte konsultiert, allein im März war er sieben Mal in Behandlung. Er klagte über Sehstörungen. Er hatte bereits auf dem Hinflug einen minutenlangen flugtechnisch unbegründeten Sinkflug ausgelöst.

„Andreas Lubitz war flugunfähig“, sagt heute der Staatsanwalt. „Er war hundert Prozent flugtauglich“, sagte Spohr vor 11 Wochen. Der Lufthansa-Chef hat nicht „die Unwahrheit“ gesagt. Er hat allerdings seinen Stand der (falschen) Erkenntnis wahrheitsgleich dargestellt. Er wirkte überzeugend, herausragend in einer schlimmen Kakofonie von haltlosen Spekulationen. Die Öffentlichkeit war ihm dankbar, sein Unternehmen auch.

In den Tagen danach sind viele Journalisten dafür kritisiert worden, dass sie es nicht dabei bewenden ließen. Sie haben recherchiert, ob es hinter Spohrs Wahrheit noch eine andere gibt. Als pietätlos wurde das oft empfunden, und manches Mal war es das auch. Aber es kam eine andere Wahrheit zutage, die aus dem vermeintlich unerklärlichen, vermeintlich nicht zu verhindernden Einzelfall auch einen Fall der Systeme machte: der ärztlichen Schweigepflicht, der Ausbildung – und der Kontrolle.

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