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Dieses Bild zeigt einen verletzten Mursi-Anhänger in Kairo.

© rtr

Ägypten: Polizisten massakrieren Mursi-Anhänger in Kairo

Gezielte Kugeln in Kopf, Hals oder Brust: Mit äußerster Brutalität gehen die neuen Machthaber in Ägypten gegen die Anhänger des gestürzten Präsidenten Mursi vor. Allein in Kairo wurden offenbar über 100 Menschen getötet. „Es ist unvorstellbar, es ist die Hölle“, sagt ein Mediziner.

Vor Schmerz stöhnende Männer werden hereingeschleppt, auf dem Kachelboden haben sich Blutlachen gebildet. Ein Arzt beugt sich über einen leblosen, jungen Mann, hebt seinen Kopf an, der von einer Kugel durchbohrt ist. Verzweifelt versuchen Ärzte, Bewusstlose wiederzubeleben, blutende Wunden von Verletzten zu stillen. Anderen Opfern werden auf provisorischen Krankenliegen Gewehrkugeln herausoperiert. Überall schreien Helfer durcheinander, andere brechen weinend zusammen.

Chaotische Szenen spielten sich am Samstagfrüh ab in dem Notlazarett neben der Rabaa Adawiya Moschee im Stadtteil Nasr City. „Sissi ist ein Mörder“ und „Das Volk fordert die Hinrichtung der Mörder“, skandierte draußen die Menge, die hier seit vier Wochen campiert und die Wiedereinsetzung des durch das Militär gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi fordert.

Nach Angaben der Einsatzkräfte vor Ort beläuft sich die Zahl der Toten auf mindestens 75, andere Quellen sprechen von 120 Opfern – fast alle getötet durch gezielte Kugeln in Kopf, Hals oder Brust. Die Zahl der Verletzten liegt nach Angaben des leitenden Notarztes Hisham Ibrahim bei mehr als 1500. „Es ist unvorstellbar, es ist die Hölle“, sagte der Mediziner gegenüber BBC. Lokale Reporter zählten allein in einem Nebenraum der Moschee 37 in weiße Tücher gehüllte Leichen, die am Nachmittag in offenen Särgen durch die Menge getragen wurden.

Nach Angaben von Augenzeugen hatten Polizeieinheiten am Samstag kurz nach 3 Uhr früh zunächst Tränengas gegen Pro-Mursi-Demonstranten in Nasr City eingesetzt, die Menge dann aber unter Feuer genommen. Ausgelöst wurden die Auseinandersetzungen, als Mursi-Anhänger versuchten, die in der Nähe ihres Camps vorbeiführende 6.-Oktober-Brücke zum Flughafen zu besetzen. Mehrere Stunden lang hallten Schüsse durch die Häuserfluchten.

Nach Augenzeugen beteiligten sich auch lokale Anwohner an den Gefechten. Scharfschützen zielten von umliegenden Dächern herunter auf die Menschen. Autos gingen in Flammen auf, nach Ende der sechsstündigen Krawalle waren die Straßen übersäht mit Blutlachen, Patronenhülsen und Steinen. Nach dem Massaker an Demonstranten mit 53 Toten vor drei Wochen nahe dem Hauptquartier der Republikanischen Garden ist dies der zweite schwere Übergriff der Sicherheitskräfte gegenüber Mursi-Anhängern.

Zuvor hatte die Armeeführung der Muslimbruderschaft unter dem Titel „Die letzte Chance“ ein Ultimatum gestellt. Entweder sie trete bis Freitagabend „dem Start der Nation in die Zukunft" bei, oder man werde die bisherige Strategie im Umgang mit Terror und Gewalt ändern. Innenminister Mohamed Ibrahim erklärte auf einer Pressekonferenz, die Polizei habe nicht mit dem Schießen begonnen, sondern sei angegriffen worden. Nach seinen Angaben wurden 14 Polizisten und 37 Soldaten verletzt, zwei Beamte durch Schüsse in den Kopf.

Ibrahim unterstrich, es gebe zahlreiche Beschwerden von Anwohnern rund um das Zeltareal bei der Rabaa Adawiya Moschee und dem Ennahda-Platz vor der Kairo Universität in Giza. Man werde die beiden Pro-Mursi-Lager „bald und mit möglichst wenig Verlusten zu einem Ende bringen“.

Übergangspräsident Adly Mansour erklärte in einem Telefonat mit dem Sender „Al Hayat“, allen, die jetzt ihren Sitzstreik beendeten und friedlich nach Hause gingen, werde nichts passieren. Die Ägypter wollten „keinen Weg mehr zurück“, erklärte er an die Adresse der Mursi-Anhänger. Vize-Übergangspräsident Mohamed ElBaradei twitterte, „es wird höchste Zeit, dass wir den miserablen Zustand der Polarisierung durch den Einsatz von Vernunft beenden.“

Die neuerlichen Gewaltexzesse der Sicherheitskräfte folgten einem Tag mit Massendemonstrationen beider Lager am Freitag. Militärchef Abdul-Fattah el-Sissi hatte am Mittwoch die Bevölkerung aufgefordert, ihm und der Armee ein Mandat zu geben, gegen „Terrorismus und Gewalt“ vorzugeben. Über den jubelnden Massen auf dem Tahrir-Platz kreisten den ganzen Tag Militärhubschrauber. In Plakaten und Transparenten ließen die Demonstranten keinen Zweifel daran, dass sie alle Muslimbrüder pauschal für Terroristen halten und sie ein harsches Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen diese Gruppe der Bevölkerung billigen.

In Alexandria kam es in der Nacht ebenfalls zu schweren Auseinandersetzungen, die auch am Samstag anhielten. Hier wurden nach vorläufigen Angaben mindestens zehn Menschen getötet und viele Dutzend verletzt. Eine 200-köpfige Gruppe von Mursi-Anhängern, darunter auch Frauen und Kinder, wurden von bewaffneten Schlägern stundenlang in einer Moschee nahe der Mittelmeer-Corniche eingeschlossen. Ein Video aus dem Inneren des Gebäudes zeigten Verletzte am Boden, während draußen Schüsse zu hören waren.

Westliche Politiker verurteilten die Eskalation der Gewalt in Ägypten und reagierten tief besorgt. Außenminister Westerwelle appellierte an die ägyptischen Behörden, friedliche Demonstrationen zuzulassen und alles zu tun, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. „Nur im Dialog, nicht durch Gewalt kann die Zukunft Ägyptens gestaltet werden", sagte er. Sein britischer Amtskollege William Hague erklärte, es sei nun die Verantwortung der Führer aller Seiten, Schritte zur Reduzierung der Spannungen zu unternehmen. Auch die Außenbeauftragte der Europäischen Union, Catherine Ashton, rief alle Seiten dazu auf, die Gewalt zu beenden. Die einzige Lösung sei ein Übergangsprozess, der alle politischen Gruppen, auch die Muslimbruderschaft, mit einschließe.

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