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Im Spiel. Eine Frau schaut in der Innenstadt von Kairo auf ein Graffito, das den Präsidenten Mohamed Mursi als Spielkarte zeigt.

© REUTERS

Ägypten: Wenn das Mursi-Meter ins Minus zeigt

Außenpolitisch gewinnt Ägyptens Präsident an Format. Aber zu Hause türmen sich die Probleme.

Kairo - Das Mursi-Meter steht still, die Twitter-Bilanz im Netz ist gezogen. 100 Tage lang standen die fünf zentralen Wahlversprechen des neuen ägyptischen Präsidenten zur Bewertung. Alle endeten mehr oder weniger tief im Minus. Verkehr, Sicherheit, Müll, Brot für die Armen und Benzin – am gnädigsten beurteilte die zehntausendköpfige Netz-Jury noch die Fortschritte bei Polizeipräsenz und Verbrechensbekämpfung. Ganz unten rangiert die Müllabfuhr. Nicht nur Kairo, auch die meisten anderen Städte werden seit Jahren des Unrats auf den Straßen nicht mehr Herr, was Ägypten zum schmutzigsten Land im gesamten Nahen Osten hat herabsinken lassen.

Seit 100 Tagen steht Mohamed Mursi an der Spitze Ägyptens, der erste zivile Präsident seit Gründung der Republik 1953 und das erste direkt vom Volk demokratisch gewählte Staatsoberhaupt seit 5000 Jahren. Wohl nie hätte sich der 61-jährige Muslimbruder träumen lassen, einmal den Ewig-Pharao Hosni Mubarak zu beerben. Rund 880 000 Stimmen lagen beim Endergebnis am 24. Juni zwischen ihm und seinem Kontrahenten Ahmed Schafiq, der inzwischen per Haftbefehl gesucht und in die Vereinigten Arabischen Emirate geflohen ist.

Sieger Mursi dagegen wächst zusehends in seine neue Rolle hinein. Der gelernte Ingenieur präsentiert sich als Landesvater, als Politiker neuen Typs, der sich durch die Privilegien der Macht nicht korrumpieren lässt. Die Mitgliedschaft in der Muslimbruderschaft hat er niedergelegt. Seine erste Regierung setzt sich vorwiegend aus Fachleuten zusammen, die Islamisten sind im Kabinett lediglich mit fünf Ministern vertreten. Den Machtkampf mit der Armee entschied Mursi zunächst einmal für sich. Geschickt nutzte er den Überfall islamischer Gotteskämpfer auf einen Armeestützpunkt im Nordsinai, um zusammen mit dem Führungsnachwuchs der Armee die alte Garde um Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi in Ehren und mit Orden behängt in den Ruhestand zu komplimentieren. Seitdem ist der Oberste Militärrat, der nach dem Sturz von Hosni Mubarak 17 Monate lang die Geschicke des Landes lenkte, von der politischen Bühne verschwunden. Das lukrative Wirtschaftsimperium der Streitkräfte dagegen ließ Präsident Mursi vorerst unangetastet.

Außenpolitisch setzte der Staatschef ebenfalls neue Akzente. Seine ersten Reisen gingen nach Saudi-Arabien, China und die Türkei. Anders als bei Vorgänger Mubarak rücken in Mursis Denken die Beziehungen zu Europa und den USA mehr in den Hintergrund. Ende September während der UN-Vollversammlung kam kein Treffen mit US-Präsident Barack Obama zustande. Der erste Staatsbesuch in einer europäischen Hauptstadt lässt – abgesehen von einer EU-Stippvisite in Brüssel – noch auf sich warten. Wirtschaftlich gilt China als Wunschpartner Nummer eins. Denn Peking liefert ohne Vorbedingungen. Den Chinesen ist egal, was in Ägypten mit Bürgerrechten oder Meinungsfreiheit passiert. Sie drohen nicht mit Finanzsanktionen wie zuletzt Washington im Streit um den Status von Nichtregierungsorganisationen.

Auf dem Gipfel der Blockfreien Staaten in Teheran verursachte Mursi einen spektakulären Eklat, als er vor der versammelten iranischen Führung den Aufstand in Syrien als „Revolution gegen ein unterdrückerisches Regime“ bezeichnete. Zwei Wochen später legte Mursi nach und warnte Iran in einer außenpolitischen Grundsatzrede davor, sich in die inneren Angelegenheiten arabischer Staaten einzumischen. Trotzdem beteiligt sich Teheran am regionalen Syrien-Quartett, dem auf Mursis Initiative neben Ägypten und Iran auch die regionalen Schwergewichte Türkei und Saudi-Arabien angehören.

Die größten Herausforderungen für den Präsidenten warten zu Hause. Der Staatshaushalt ist total überschuldet, die Subventionen für Benzin, Kochgas und Brot verschlingen ein Viertel des nationalen Budgets. Stromausfälle und Trinkwassermangel sind zur Landplage geworden. Der Tourismus will nicht in Schwung kommen, Investoren zögern. Wegen der politischen Instabilität wird es für Kairo immer teurer, sich auf dem Kapitalmarkt Geld zu leihen. „Als ägyptischer Bürger interessiert mich vor allem eins – ob sich das tägliche Leben für die Armen verbessert“, sagt Gamal Eid, einer der prominentesten Menschenrechtler des Landes. „Nichts hat sich wirklich getan“, urteilt Taxifahrer Ali Muhammed. „Der Verkehr ist so nervig wie eh und je, vor den Tankstellen gibt es immer wieder lange Schlangen. „Aber vielleicht lässt sich so etwas auch nicht in 100 Tagen ändern.“ Martin Gehlen

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