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Politik: Ägypten zurück auf null

Institutionelles Chaos nach Auflösung des Parlaments / Am Wochenende wird ein Präsident gewählt.

Das Verfassungsgericht von Ägypten hat am Donnerstag die Parlamentswahl vom vergangenen Dezember und Januar teilweise für verfassungswidrig erklärt und das erste demokratisch gewählte Parlament des Landes bis zu Neuwahlen aufgelöst. Während die Stichwahl zwischen den Präsidentschaftskandidaten Ahmed Shafiq und Mohammed Mursi von der Muslimbruderschaft am Wochenende wie geplant stattfinden kann, ist die Arbeit des ägyptischen Parlaments nun wahrscheinlich für viele Monate auf Eis gelegt.

Gleichzeitig erschüttert die Auflösung der Volksvertretung massiv die erste demokratische Etappe Ägyptens nach dem Sturz von Hosni Mubarak. Unklar ist unter anderem, wie Ende Juni nach der angekündigten Machtübergabe des Obersten Militärrats an die neue zivile Führung eine erste demokratisch legitimierte Regierung gebildet werden soll. Das bisherige Kabinett unter Premier Kamal Ganzouri ist vom Militärrat ernannt und hat für Ende Juni seinen Rücktritt angekündigt.

Unmittelbar nach der Entscheidung brachen rund um das hermetisch abgeriegelte Gebäude des Verfassungsgerichtes erste Krawalle aus. Für Freitag haben zahlreiche Gruppen Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz angekündigt. Auch an den beiden Wahltagen am Wochenende könnte es zu weiteren Protestkundgebungen und Tumulten kommen.

Nach Auffassung der Richter benachteiligt das im Dezember und Januar praktizierte Wahlrecht individuelle Kandidaten, die sich nicht auf eine Parteiliste stützen konnten. Nach dem ursprünglichen Gesetz sollte ein Drittel der Sitze für Einzelpersönlichkeiten ohne Parteibindung reserviert sein. Zwei Drittel der Sitze sollten den Parteilisten vorbehalten bleiben. Nach wochenlangem Hin und Her jedoch verständigten sich die großen Parteien und der herrschende Militärrat dann in letzter Minute darauf, dass Parteienvertreter auch für die unabhängigen Mandate kandidieren dürfen. Durch diese Änderung aber wurden nach Auffassung der Verfassungsrichter Einzelkandidaten ohne Parteibindung unzulässig benachteiligt. Sie bekamen plötzlich prominente Parteirepräsentanten als Gegner, die zusätzlich auch Stimmen über ihre Listen einfahren konnten. Unklar war bis zum Donnerstagabend, ob das Volk bei Neuwahlen lediglich über die beanstandeten Individualmandate neu entscheiden oder die Wahl des gesamten Parlaments wiederholt werden muss. Wird nur ein Drittel der Mandate neu bestimmt, würden alle Parteienvertreter automatisch ihren Sitz verlieren, die als Einzelpersönlichkeit ins Parlament gewählt worden sind – der prominenteste Fall wäre Parlamentspräsident Saad al Katatni.

Nach dem bisher gültigen Ergebnis der Parlamentswahl sind die Muslimbrüder mit 235 Sitzen stärkste Fraktion, gefolgt von der salafistischen „Partei des Lichtes“ mit 123 Sitzen. Die liberale Wafd-Partei erlangte 38 Mandate, auf dem vierten Platz gefolgt vom „Bündnis für Ägypten“, einem Zusammenschluss dreier liberaler Parteien, mit 34 Sitzen. Die übrigen elf Miniparteien kommen zusammen auf 45 Mandate, 23 Abgeordnete zogen als Unabhängige ein.

Trotz des Chaos sollen die Ägypter am Wochenende in einer Stichwahl ihren neuen Präsidenten wählen. Mubaraks ehemaliger Premier Shafiq tritt dabei gegen den Muslimbruder Mursi an. Für viele Ägypter aber sind beide Kontrahenten um das Präsidentenamt keine Wahl. Sie wollen weder eine totale Übermacht der Muslimbrüder herbeistimmen noch eine De-facto-Rückkehr des alten Regimes. „Es macht keinen Sinn, zwischen zwei Falschen zu wählen“, sagt eine junge Demonstrantin auf dem Tahrir-Platz. „Wenn Ahmed Shafiq gewinnt, werden wir wieder auf die Straße gehen. Noch gefährlicher aber könnte es sein, wenn Mohammed Mursi gewinnt. Denn er wird die Religion benutzen, um die Menschen einzulullen und ruhig zu stellen.“

So polarisiert wie das Land, so polarisiert war dann auch die Schlussphase des Wahlkampfes. Statt um bessere Rezepte für die Zukunft Ägyptens zu streiten, überschütteten sich die beiden Rivalen mit Vorwürfen und Beleidigungen. „Die Muslimbruderschaft steht für Dunkelheit und Undurchsichtigkeit“, polemisierte Shafiq in einem Fernsehinterview. „Sie werden uns zurückwerfen in ein düsteres Zeitalter.“ „Alles bodenlose Lügen“, retournierten empört die Muslimbrüder, während ihr Kandidat Mursi versuchte, vor allem die Ängste der Frauen und der koptischen Minderheit vor einer islamistischen Allmacht zu zerstreuen. Seine Präsidentschaft werde basieren auf dem Islam, aber keine Theokratie sein, erklärte der promovierte Bauingenieur. Ob dies am Ende reicht, um als erster Muslimbruder in der Geschichte des Landes die Geschicke Ägyptens zu führen, kann niemand sagen.

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