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Afghanistan: Aufatmen in Kabul nach Wahlentscheid

Viele Afghanen sind erleichtert, dass es nun keine Stichwahl geben wird – sie hatten Angst vor neuem Terror. Die wahren Verlierer dieser Wahl sitzen jedoch in Washington und Europa.

Er will dichtmachen. „So schnell wie möglich“, sagt Boris Wojahn. Morgen fährt der 32-Jährige weiter nach Kundus, noch genießt er in einem Gartenlokal Kabuls die Herbstsonne, hinter hohen Mauern und Stacheldraht. „Keine Waffen“ steht am Einlass, wo Wachen mit Gewehren jeden Gast kontrollieren. Wojahn ist ein Kumpeltyp, einer, der nicht in den gedrechselten Floskeln der Diplomaten redet, sondern die Dinge beim Namen nennt. Wohl nur wenige Deutsche haben die letzten Jahre in Afghanistan so hautnah miterlebt wie der Braunschweiger. Erst war er als Koch bei der Bundeswehr in Kabul stationiert, bevor er 2003 in Kundus die Herberge „Lapislazuli“ eröffnete.

Seitdem war das „Lapis“ eine Institution, eine Oase für Ausländer im unwirtlichen Kundus – mit sauberen Bettüchern, Duschen und deutscher Kost von Bratkartoffeln bis zum Schnitzel. Doch nun laufen die Geschäfte immer schlechter, immer weniger Ausländer trauen sich noch in die Region. Kundus, einst ein sicherer Ort, ist zur Kampffront geworden: Die Taliban haben die Bundeswehr als Ziel entdeckt. Und verstärkt würden sie von tschetschenischen Kämpfern, erzählt Wojahn.

Anfangs seien die deutschen Soldaten noch durch die Straßen gelaufen, sagt Wojahn. Daran sei nicht mehr zu denken. Nun sind die Deutschen damit beschäftigt, sich selbst zu beschützen – und igeln sich nachts im Lager ein. „Seit 2007 sehe ich es nur noch bergab gehen“, sagt Wojahn. Er klingt frustriert und ist nicht der Einzige, der schwarz sieht für dieses wilde, schöne Land, das sich westlichen Vorstellungen so sehr entzieht. Auch die Jugend verliert die Hoffnung. Und Afghanistan damit seine Hoffnungsträger: „Die Jugend, die was im Kopf hat, geht weg“, sagt Wojahn. Nur die Ungebildeten und die Armen blieben.

Selbst in Kabul fühlt man sich dieser Tage wie auf einem sinkenden Schiff; das zwei Monate währende Wahlchaos hat das Gefühl des Niederganges verstärkt. Die Taliban bombten immer wieder, auch mitten in Kabul. In Scharen haben Ausländer – Helfer, Diplomaten, UN-Mitarbeiter und Geschäftsleute – Stadt und Land verlassen. Die Afghanen aber müssen bleiben.

Die Angst vor dem Terror ist allgegenwärtig: Es wimmelt von Kontrollen, Soldaten, die mit ihren vor den Mund gebundenen Tüchern eher wie wilde Milizionäre aussehen, kreuzen auf Jeeps durch die Straßen. Über der Stadt schwebt einem gigantischen Goldfisch gleich ein Zeppelin am Himmel, der aus der Luft das Botschaftsviertel überwacht. Nur von Wahlkampffieber spürt man nichts, selbst in Kabul nicht. Nach zwei Monaten geht das Trauerspiel um die Wahl in den hoffentlich letzten Akt: Am Montag wurde die Stichwahl offiziell abgeblasen, nachdem Karsais Herausforderer Abdullah Abdullah zuvor seinen Rückzug erklärt hatte.

Viele Afghanen atmen auf: Zu absurd erschien es, dass sie bei einer Wahl ihr Leben riskieren sollten, bei der sie keine Wahl haben. Während der Westen sich über den Wahlbetrug erregte und die Legitimität der Regierung diskutierte, wollten die meisten Afghanen die Posse nur noch hinter sich haben: „Die Menschen hatten diese Wahlen satt“, sagt der Paschtune Mirwais, während er die Wespen verscheucht, die die Fanta seiner kleinen Tochter umschwirren. Mirwais ist erst 26 Jahre alt, aber schon Witwer. Seine junge Frau starb, wahrscheinlich an Nierenleiden. Auch das sagt viel über den Zustand Afghanistans und den Mangel an medizinischer Versorgung.

Die Afghanen seien wütend, dass die UN für dieses Wahltheater Millionen verpulvere, sagt Mirwais. Das Geld solle besser in den Aufbau fließen. „Niemand wollte eine zweite Runde. Nur die Ausländer.“ Obgleich er den Paschtunen Karsai unterstützt, wäre auch Mirwais der Stichwahl ferngeblieben – zu gefährlich, meint er. Das hörte man allenthalben. Die allermeisten Afghanen hatten keinerlei Lust, erneut ihr Leben zu riskieren.

Das Restaurant im Herzen Kabuls, in dem er kellnert, wirkt wie ein Mikrokosmos des Landes – zwischen Kalaschnikow-Kultur, Islam und neuen Freiheiten. An der Wand hängen altertümliche Gewehre, während auf dem modernen Flachbildschirm tadschikische Popvideos laufen – mit Mädchen in Miniröcken und mit tiefen Ausschnitten. Zwar hat die Zensurbehörde das nackte Frauenfleisch überblenden lassen, aber allein, dass die Videos gezeigt werden, wäre vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen. In den Taxis dudelt nun Musik, am Freitag fliegen über Kabul wieder die bunten Drachen am Himmel. All das war unter den Taliban verboten.

Die Wahlen haben fast alle enttäuscht: „Was ist aus meiner Stimme geworden“, empört sich der Hazara Ahmed. Er glaubt, dass Karsais Leute seinem Kandidaten die Stimmen gestohlen haben. Mirwais sieht das wie viele Paschtunen, die mit 45 Prozent die größte Volksgruppe stellen, völlig anders: Der Westen habe Karsai durch falsche Betrugsvorwürfe den verdienten Sieg im ersten Wahlgang geraubt, glaubt er. Er versteht die Aufregung um die Stimmfälschung nicht: „Ein bisschen Wahlbetrug gibt es doch überall.“

Der Sieger sind die Taliban. Sie haben mit Anschlägen nicht nur gezeigt, dass selbst Kabul nicht sicher ist. Sie verhöhnen den Endlos-Streit um die Wahlen als „Seifenoper“. Fraglos hat das zweimonatige Trauerspiel die junge Demokratie nicht gestärkt. Die Sehnsucht nach dem starken Mann wächst: „Afghanistan braucht einen Hitler“, sagt Mirwais, wobei man wissen muss, dass viele in Südasien Hitler nicht als Massenmörder, sondern vor allem als starke Führungspersönlichkeit sehen. Auch Ahmed meint: „Wir brauchen keine Demokratie. Wir brauchen einen Pinochet, einen Fidel Castro oder einen Atatürk.“ Selbst Demokratiebefürworter sagen hinter vorgehaltener Hand Ähnliches, formulieren es nur vornehmer: Notwendig sei ein von den UN eingesetzter Präsident, nicht ein gewählter“, findet ein Bürgerrechtler, der nicht namentlich zitiert werden will. „Karsai und Abdullah müssen weg.“

Die wahren Verlierer dieser Wahl sitzen also nicht in Afghanistan, sondern in Washington und Europa: Der Westen hat den Einsatz am Hindukusch daheim mit dem Kampf für die Demokratie gerechtfertigt – und verkannte von Anfang an, dass sich eine mittelalterliche Stammesgesellschaft nicht in wenigen Jahren ummodeln lässt. Nach den Attentaten vom 11. September 2001 hatten die USA und ihre Verbündeten begonnen, die seit 1996 herrschende radikal-islamische Taliban-Regierung zu stürzen und die Terrororganisation Al Qaida zu bekämpfen. Den seit 2003 von der Nato geführten internationale Schutztruppen (ISAF), die den Wiederaufbau und die Demokratisierung des Landes absichern sollen, gehören inzwischen etwa 60 000 Soldaten aus 42 Ländern an. Darüber hinaus sind etwa 30 000 weitere Soldaten der USA in Afghanistan stationiert. Deutschland stellt derzeit mit 4010 Soldaten die drittgrößte Truppe nach den USA und Großbritannien.

Doch ihr Erfolg ist fraglicher denn je: „Die Afghanen wollten dieses System nicht“, sagt Wojahn. „Die haben ihre eigene Art, die Dinge zu regeln, die Loya Jirga etwa, die große Ratsversammlung.“ Nun hat das Wahlfiasko die Kritik am Afghanistan-Einsatz angeheizt, statt sie zu besänftigen. In Afghanistan selbst wird sich die Aufregung darüber schneller legen, als der Westen denkt. Aber das Land steckt in der Krise – politisch, militärisch und wirtschaftlich. Der Westen macht es sich zu bequem, wenn er alle Übel und Missstände Karsai und seiner korrupten Regierung anlastet. Auch die internationale Gemeinschaft kann sich nicht stolz auf die Schulter klopfen: In zwei Jahren sind die Amerikaner und ihre Verbündeten ebenso lange im Land, wie die Russen da waren, bevor sie 1989 nach zehn Jahren Besatzung abzogen – gedemütigt von den vom Westen unterstützten islamischen Mudschaheddin-Guerillas.

Der Vergleich fällt aus Sicht der afghanischen Bevölkerung nicht unbedingt zugunsten des Westens aus: „Die Russen haben viel für die Allgemeinheit getan“, meint Wojahn. Sie haben Straßen gebaut und Wohnblocks mit Zentralheizung. In Afghanistan, wo die Temperatur im Winter 30 Grad unter Null sinken kann, ist das ein Traum. „Die Menschen brauchen was zum Futtern, was zum Heizen im Winter, Schulen und eine medizinische Versorgung“, sagt Wojahn. Der jetzige Aufbau geht viel zu schleppend voran, wirkt oft unkoordiniert und verzettelt.

Nur 20 Prozent der Finanzhilfen kämen wirklich bei den Afghanen an, 80 Prozent der Gelder flössen in die Geberländer zurück, weil diese die Aufträge eigenen Firmen oder Hilfsorganisationen zuschustern, schätzen Experten.

Christine Möllhoff[Kabul]

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