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Die Gräber von Kundus. Angehörige betrauern am 5. September 2009 die Opfer des Luftangriffs. Foto: Munir/picture alliance/dpa

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Afghanistan: Die unbekannten Toten

Seit 2007 wird gezählt, wie viele Zivilisten in Afghanistan sterben – im Vorjahr wuchs die Zahl um ein Drittel.

Berlin - In der Nacht zum 4. September 2009 fielen Bomben auf zwei entführte Tanklaster nahe Kundus in Afghanistan – den Befehl dazu hatte ein deutscher Bundeswehr-Oberst ausgelöst. 142 Menschen starben dabei nach Nato-Angaben; in Berlin wurde am gestrigen Samstag dieser Toten gedacht. Aber auch ein Jahr danach ist nicht völlig klar, wie viele von ihnen Zivilisten waren. So wenig, wie sich seriös schätzen lässt, wie viele unbeteiligte Menschen, Männer, Frauen und Kinder, dieser Krieg seit Beginn 2001 schon das Leben gekostet hat.

Die Schätzungen nach der Bombardierung von zwei Tanklastzügen am Kundus-Fluss, die der deutsche Oberst Georg Klein verantwortet hatte, gingen weit auseinander. Nach Nato-Angaben starben bis zu 142 Menschen. Die Bundeswehr zahlte für 102 Opfer eine Entschädigung, 5000 Dollar pro Familie.

Offizielle Angaben über tote Zivilisten gibt es für Afghanistan überhaupt erst seit 2007. Seitdem veröffentlicht die UN-Hilfsmission für Afghanistan (Unama) halbjährlich einen Bericht über die Lage von Zivilisten. „Seit 2007 haben wir rund 7000 getötete Zivilisten gezählt“, sagte Dan McNorton, Unama- Sprecher in Kabul, dem Tagesspiegel. Angaben zu den sechs Jahren zuvor – die US-geführten Truppen attackierten Afghanistan erstmals im Oktober 2001 – macht die Organisation nicht. „Wir haben zu den ersten Jahren keine verlässlichen Zahlen “, sagt McNorton.

Im UN-Mandat, das die Unama mit der Überwachung der Lage der Zivilisten in Afghanistan beauftragt, wird das Zählen der zivilen Toten nicht explizit erwähnt. Bis 2007 untersuchten die Mitarbeiter daher exemplarisch Vorfälle und zogen so Schlüsse auf die allgemeine Lage. Das änderte sich, als 2006 der deutsche Grünen-Politiker Tom Königs für zwei Jahre den Vorstand übernahm. „Ich war überzeugt, dass wir konkrete Zahlen brauchen, um Aufmerksamkeit zu erregen“, sagte Koenigs, heute Abgeordneter im Bundestag und Vorsitzender des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. Koenigs leitete zuvor eine UN-Mission in Guatemala und brachte sein Wissen über systematische Erhebungen von dort mit nach Afghanistan.

Der neueste Bericht erschien vor einigen Wochen und wies im ersten Halbjahr 2010 insgesamt 1 271 getötete und 1 997 verletzte Zivilisten aus. Die Zahl war im Vergleich zum Vorjahr um 31 Prozent gestiegen. Für 76 Prozent der Toten und Verletzten waren Aufständische verantwortlich, für 12 Prozent regierungsnahe Truppen, zu denen auch die Bundeswehr-Kräfte zählen. Weitere 12 Prozent konnten keiner Seite zugeordnet werden.

Der Verband Entwicklungspolitik Deutscher Nichtregierungsorganisationen – dem in Afghanistan unter anderem die Hilfsorganisationen Caritas international, die Johanniter-Unfallhilfe und die Welthungerhilfe angehören – kritisiert das Vorgehen der internationalen Truppen. „Die militärischen Operationen von US- und sonstigen Nato-Streitkräften zeichnen sich häufig durch einen überzogenen Einsatz von Gewalt und eine mangelnde Unterscheidung zwischen militärischen Zielen und zivilen Personen und Einrichtungen aus“, sagte eine Sprecherin dem Tagesspiegel. Dies gelte nicht nur für die US-geführte Operation „Enduring Freedom“, sondern zunehmend auch für den UN-mandatierten und von der Nato geführten Isaf-Einsatz, unter dem auch die Deutschen agieren.

Die Unama-Mitarbeiter versuchen, alle Vorfälle unabhängig zu untersuchen und sich auf viele Quellen zu stützen: Sie befragen – wenn möglich – Augenzeugen und direkt Betroffene sowie das Militär, außerdem lokale Gouverneure und religiöse Führer. Sie besuchen den Tatort und Verletzte in Krankenhäusern, werten Foto- und Videoaufnahmen, Presseberichte und Berichte von Nichtregierungsorganisationen und anderen aus. Wenn die Mitarbeiter von der Glaubwürdigkeit der berichteten Zahlen nicht überzeugt seien, würden sie nicht gezählt, heißt es im Halbjahresbericht. Wegen dieser vielen Quellen und mühsamen Auswertungen dauert es manchmal Wochen, bis Untersuchungen vollständig abgeschlossen sind.

Zivilist ist in den Zählweisen der Unama jede Person, die nicht an Kampfhandlungen teilnimmt. Dazu gehören zum Beispiel öffentliche Angestellte wie Lehrer oder Ärzte, politische Funktionäre und Amtsträger – aber auch Soldaten und Kämpfer, die aufgegeben haben, und Polizei in Zivil. Wenn diese Kriterien bei einem Vorfall nicht eindeutig belegt werden können, dann werden Männer im kampffähigen Alter nicht gezählt.

In Konflikten wie in Afghanistan sind die Grenzen zwischen Zivilisten und Kämpfern allerdings oft fließend. Je länger der Krieg dauert, desto stärker nutzen die Aufständischen die Einsatzrichtlinien der Soldaten. Diese lauten: Der Schutz der Zivilbevölkerung hat oberste Priorität. „Wir müssen vermeiden, taktische Siege zu erzielen – während wir gleichzeitig strategische Niederlagen erleiden, indem wir zivile Opfer oder exzessive Schäden verursachen und damit das Volk verprellen“, hieß es in einem Befehl des ehemaligen Isaf-Kommandeurs Stanley McChrystal, der 2009 einen Strategiewechsel in Afghanistan einleitete.

„Für uns ist es ein schwieriger Spagat zwischen dem Schutz der eigenen Truppen und dem Schutz der Zivilbevölkerung“, sagt ein Sprecher des Verteidigungsministeriums. „Früher haben die Aufständischen vor einem Selbstmordanschlag oder einem Angriff meistens die Alten und die Kinder weggebracht. Heute greifen sie aus der Mitte der Zivilbevölkerung an und nehmen diese so als Schutzschild.“ Es komme auch oft vor, dass die Aufständischen Waffen an einem bestimmten Ort deponierten, von dort schössen und als normale Zivilisten zum nächsten Waffenstützpunkt liefen. „Diese Taktiken machen die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Aufständischen immer schwerer“, sagt der Sprecher. Nach Angaben des unabhängigen Internetdiensts icasualties.org starben im Rahmen der Operation Enduring Freedom 2 061 Soldaten seit 2001, davon insgesamt 1 273 US-Amerikaner.

Für Nichtregierungsorganisationen vor Ort wird es immer schwerer, den Überblick über die zivile Lage zu behalten. Denn auch sie selbst werden Opfer von Gewalt. In den ersten sechs Monaten 2010 gab es drei Sprengstoffanschläge, bei denen Mitarbeiter starben, und 19 Entführungen, die zum Glück ohne Blutvergießen endeten. Diese Zahlen erhebt das Afghanistan NGO Safety Office, das Nichtregierungsorganisationen mit Sicherheitshinweisen versorgt. „Auch wenn die meisten Afghanen wissen, dass wir nicht mit dem Militär zusammenarbeiten, ist unsere Arbeit hier alles andere als leicht“, sagt Thomas Ruttig, der das unabhängige Expertennetzwerk Afghanistan Analysts Network leitet. „Aber nicht nur wir sind bedroht – die Leute in den afghanischen Provinzen haben Angst mit uns gesehen zu werden, das ist inzwischen höchst gefährlich für sie.“ Die Situation vor Ort werde von Jahr zu Jahr kritischer und unübersichtlicher.

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