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Afghanistan-Experte: "Die Moral der Taliban ist nicht gebrochen"

Alex Strick van Linschoten ist Afghanistan-Experte und arbeitet an einer Studie über das Verhältnis von Taliban und Al Qaida. Mit dem Tagesspiegel spricht er über die Lage in Kandahar.

Wie beurteilen Sie die Lage in Kandahar?

Die Menschen sind erschöpft. Die Jüngeren versuchen rauszukommen aus der Stadt, woanders weiterzuleben. Vergangene Woche sind zwei stellvertretende Behördenleiter ermordet worden. Jeder, der für die Regierung arbeitet, ist in Gefahr. Die Taliban fordern die Menschen auf, nicht mit der Regierung zusammenzuarbeiten. Sie wissen ziemlich genau, was jeder Einzelne tut. Afghanische Regierung und US-Truppen können nicht alle Bewohner schützen. Nur wenige glauben, dass die aktuelle Regierung eine Zukunft hat oder in der jetzigen Form überleben wird.

Wie gehen die Taliban in der Stadt vor?

Die Taliban haben beispielsweise eine sogenannte Vermittlungskommission eingerichtet. Wenn jemand einen der berüchtigten Nachtbriefe vor seiner Tür findet, mit der Warnung, nicht mit den „Besatzern“ zusammenzuarbeiten, dann kann er Einspruch bei dieser Kommission einlegen, wenn er sich zu Unrecht beschuldigt fühlt. Das ist eine Art der Taliban, um „Herzen und Köpfe“ der Bewohner zu kämpfen. Andererseits ist nicht so viel von Ideologie in Kandahar zu spüren, wie man vermuten würde. Der Islam ist ein Faktor, der den Aufstand motiviert, aber nach meinem Eindruck nicht der Hauptfaktor im Süden. Es gibt viele andere Faktoren, nach denen sich die Menschen definieren. Der Islam steht da nicht an erster Stelle.

Wie stehen die Menschen zum Einsatz des internationalen Militärs im Süden?

Es gibt eine Reihe von Gründen, die die Menschen skeptisch machen. Man hört zum Beispiel von US-Truppenführern, die Dorf-Älteste vor die Wahl stellen: Entweder ihr sagt uns, wo Minen und Sprengstoff vergraben sind, oder wir müssen bombardieren. Dies ruft bei den Dorfbewohnern Erinnerungen an die Zeit der sowjetischen Besatzung hervor. Auch damals gab es gegenüber der Bevölkerung das Prinzip der kollektiven Haftung, etwas, das nach der Genfer Konvention über den Schutz von Zivilisten im Krieg verboten ist.

Die USA sehen eine positive Entwicklung im Süden. Ist das berechtigt?

Mein Eindruck ist: Der neue Isaf-Kommandeur General Petraeus glaubt, diesen Krieg militärisch gewinnen zu können. Er überschätzt seine Möglichkeiten und unterschätzt zugleich, welche Folgen dies auf den Aufstand und die Taliban hat. Ich denke nicht, dass Petraeus ein ernsthaftes Interesse an einer Verhandlungslösung hat. Auch nicht, dass er die Taliban als Teil der afghanischen Gesellschaft ansieht.

War die Strategie von Petraeus Vorgänger McChrystal Erfolg versprechender?

Verglichen mit Petraeus schien McChrystal die Dinge deutlich besser einzuschätzen. Auch die Folgen, die bestimmte militärische Operationen haben können. Die Anzahl der nächtlichen Operationen sind ein gutes Beispiel. Nach Angaben der Isaf haben sie deutlich zugenommen, seit Petraeus im Amt ist. Petraeus hat den Kampf aus der Luft wieder aufgenommen. Im November 2010 zum Beispiel gab es drei Mal mehr Bombenabwürfe in Afghanistan als ein Jahr zuvor. Eine dramatische Steigerung.

Schwächt das die Taliban ?

Die Nachtoperationen fordern ihren Tribut. Es werden viele Taliban verwundet oder getötet. Ihre Moral scheint aber nicht gebrochen. Auch sind sie weiter in der Lage, Angriffe oder Anschläge auszuführen. Die Anzahl ihrer Kämpfer scheint sich nicht grundsätzlich verändert zu haben. Sie erleiden eine Menge Rückschläge, aber im Frühjahr dürfte wieder mit ihnen zu rechnen sein.

Beobachter sagen, die Taliban-Bewegung sei dabei, sich zu radikalisieren aufgrund der intensiveren Kriegsführung.

Bestimmte Vorgehensweisen fallen auf. Zum Beispiel die Anzahl der Enthauptungen. Das hat es früher so nicht gegeben. Auch die Haltung gegenüber gesellschaftlichen Autoritäten hat sich verändert, wie die Morde an Stammesältesten zeigen. Ebenso die Art und Weise, wie mit der Taliban-Führung in Quetta kommuniziert wird. Man ist nicht unterwürfig. Wir beobachten eine Fragmentierung: der Schatten-Gouverneur der Taliban in Kandahar hat nicht wirklich die Kontrolle über alle Gruppen in der Stadt. Viele Anschläge werden nicht von Quetta aus befohlen, sondern gehen von kleineren Gruppen aus. Einige mögen ihre Anweisungen aus Pakistan erhalten. Aber insgesamt gibt es mehr unterschiedliche Stimmen innerhalb der Bewegung.

Was bedeutet das für die Zukunft?

Es gibt die Sorge, dass sich ein neuer Taliban-Typus etablieren könnte. Einer, der stärker den internationalen Jihad auf seinen Fahnen führt, mit jungen Kämpfern als Anführer, die nur Krieg und Konflikt kennen, und keine Vorstellung davon haben, wie Afghanistan einmal aussah, bevor die Russen einmarschierten. Sie wissen nicht, was Frieden bedeutet.

Alex Strick van Linschoten, niederländischer Autor und Wissenschaftler, lebt in Kandahar. Er arbeitet derzeit an einer Studie über das Verhältnis von Taliban und Al Qaida.

Das Gespräch führte Martin Gerner.

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