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Afghanistan: Nato-Generäle warnen vor "Talibanisierung"

Die Bundesregierung gerät wegen ihrer Weigerung, Bundeswehrsoldaten in den Süden Afghanistans zu schicken, zunehmend in Bedrängnis. Denn immer klarer wird: Das Schicksal des Landes wird sich im Süden entscheiden.

Brüssel/Berlin - Nato-Generäle warnen inzwischen offen vor einer "Talibanisierung" des Landes. "Die Taliban sind praktisch überall im Land auf dem Vormarsch", sagte ein hoher Offizier des westlichen Bündnisses im Brüsseler Nato-Hauptquartier.

Die blutigen Kämpfe, die sich im Süden Afghanistans abspielen, "werden sich bald auf alle Provinzen ausdehnen, wenn wir nicht schnell genug dagegen halten", meinte der Offizier. Die Taliban seien jetzt "gut organisiert, gut ausgerüstet und hätten bereits große Teile der Bevölkerung hinter sich gebracht".

Vor diesem Hintergrund wächst der Druck auf die Bundesregierung, Bundeswehrsoldaten aus dem relativ ruhigen Norden zur Unterstützung der alliierten Kameraden in den Süden Afghanistans zu schicken. Dieses Thema werde den Nato-Gipfel am nächsten Dienstag im lettischen Riga beherrschen, war in Brüssel zu hören. Es nütze nichts, wenn die Bundeswehr "nur Nothilfe im Süden leisten will", wird von den Nato-Militärs betont.

Lenkt die Bundesregierung ein?

Aus Kreisen der Bundeswehrgeneräle war zu erfahren, "dass wir auf Dauer die deutsche Haltung, nicht überall in Afghanistan Seite an Seite mit den anderen Nato-Partnern gegen die Taliban vorzugehen, nicht durchhalten können". In Riga werde die Bundesregierung noch ihre Position verteidigen, Verantwortung ausschließlich im afghanischen Norden zu tragen. Es gebe jedoch Überlegungen, beim Nato-Treffen die Partner mit einem "Angebot, das wir sozusagen aus dem Hut zaubern, zu besänftigen", ließ ein Bundeswehrgeneral wissen.

So könnte nach vertraulicher Aussage deutscher Offiziere den anderen Nato-Militärs angeboten werden, das Vorgehen gegen die Taliban mit Aufklärung aus der Luft zu unterstützen. Die Deutsche Luftwaffe könnte "Recce-Tornados" an den Hindukusch abkommandieren.

Diese Aufklärungsmaschinen, die schon im Balkankrieg eingesetzt wurden, können mit ihren Kamerasystemen sowohl in mittleren als auch in niedrigen bis sehr niedrigen Höhen gute Luftbilder liefern. Die Tornados können vor, während oder nach militärischen Operationen im Zielgebiet eingesetzt werden. In Brüssel seien diese Überlegungen schon auf ein "positives Echo" gestoßen.

Bundeswehr: Kampfeinsatz im Süden "durchaus denkbar"

Aus Bundeswehrkreisen war darüber hinaus zu erfahren, dass ein "Kampfeinsatz" von deutschen Soldaten im südlichen Afghanistan in einer Größenordnung von über tausend Mann "durchaus denkbar ist". Die Soldaten der Bundeswehr seien sich bewusst, "dass es unser Auftrag ist, auch kämpfen zu können". Wenn eine entsprechende politische Entscheidung fiele, "wird es keine Probleme geben, dass wir überall im Land mit unseren alliierten Kameraden gegen die Taliban vorgehen", erklärte ein deutscher Truppenführer.

Für die Nato "geht es in Afghanistan mittlerweile ums Ganze", erläuterten Offiziere in Brüssel. Auch das Schicksal der Afghanen werde sich wahrscheinlich im Süden entscheiden. Der frühere US-Präsidentenberater Brent Scowcroft ließ keinen Zweifel: Wenn die Nato in Afghanistan scheitere, "ist sie erledigt", sagte er unmissverständlich. Der britische Premierminister Tony Blair formulierte es gerade bei einem überraschenden Besuch seiner Soldaten im Süden Afghanistans noch deutlicher. "Es ist dieser außergewöhnliche Flecken Wüste, auf dem sich die Zukunft der Weltsicherheit im frühen 21. Jahrhundert entscheiden wird", unterstrich Blair.

Auch der amerikanische Botschafter in der afghanischen Hauptstadt Kabul, Ronald Neumann, wies auf die Gefahren eines Scheiterns der Nato am Hindukusch hin. Sollte Afghanistan wieder an die Taliban fallen, "werden die Menschen in der gesamten westlichen Hemisphäre überhaupt keine Ruhe mehr vor den islamistischen Terroristen haben", sagte Neumann. Ausdrücklich erwähnte er auch Deutschland. (Von Friedrich Kuhn, ddp)

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