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Geld gegen Waffen. Mit Aussteigerprogrammen versucht die Isaf, Milizen zu entwaffnen. Anderswo tut sie das Gegenteil.

© dpa

Afghanistan: Was bleibt, sind die Warlords

Die geheimen US-Armeereporte aus Afghanistan zeigen: Mehr und mehr setzen die Isaf-Truppen auf dubiose Milizenführer als Stützen von Recht und Ordnung.

Berlin - Die im Internetdienst Wikileaks unlängst veröffentlichten geheimen US-Armeereporte weisen auf ein bislang kaum bekanntes Phänomen hin, das für den Einsatz der internationalen Truppen in Afghanistan jedoch eine immer wichtigere Rolle spielt: die Aufstandsbekämpfung in den Provinzen. Zentraler Bestandteil dieser neuen, „Coin“ (abgekürzt von Counterinsurgency, deutsch Aufstandsbekämpfung) genannten Strategie sind lokale Milizen. Im Jahr 2009, dem letzten Jahr des vorliegenden Berichtszeitraumes, finden sie sich in allen Provinzen.

„Eine Anti-Taliban-Miliz hat Kontrolle über das Dorf Tash erlangt“, heißt es etwa in einer Notiz vom 11. Februar 2009. Die Miliz unterstehe Kommandeur Mohammed Omar; ihr Zweck sei es, den Willen des Inlandsgeheimdiensts durchzusetzen, der sie mit Waffen und Munition ausrüstet. Gäbe es diese Kämpfer nicht, ließ sich der Gouverneur von Kundus, Mohammed Omar, unlängst vernehmen, wären die Deutschen verloren und hätten keine Chance, den Norden zu kontrollieren.

Dass die bunt zusammengewürfelten irregulären Verbände mittlerweile eine immer wichtigere Rolle im Alltag der Bundeswehr einnehmen, zeigen weitere Berichte aus dem Jahr 2009. So heißt es in einem Dokument in der üblichen Militärbürokratensprache: „Am 11.1.2009 teilte der zivile Leiter des PRT (Provinzwiederaufbauteam Kundus) uns einen IED (Straßenbomben-)Anschlag mit.“ Ziel war Said Rahman, „der regionale Milizenkommandeur“. Bilanz: „Said Rahman: KIA (Killed In Action). Zwei seiner Leibwächter wurden verletzt.“

Auch muss sich die Bundeswehr offenbar zusehends mit den Angriffen der Aufständischen auf die irregulären Verbündeten herumschlagen – beziehungsweise auf deren Familien, wie am Vorweihnachtstag, dem 23. Dezember 2009, als der Neffe von Milizenchef Selab mit seinem Toyota Corolla über einen Geschwindigkeitsblocker hüpfte „und sich dabei eine Bombe löste, die jemand unter dem Auto angebracht hatte. Der Zünder war mit einem Mobiltelefon verbunden. Die Deutschen untersuchen jetzt das Telefon und die SIM-Karte, um weitere Informationen zu bekommen“, schließt der Bericht.

Begonnen hatte das Milizenprojekt Anfang 2009 in der Provinz Wardak, südlich von Kabul. Nur wenig später, im März, saß Colonel Greg Julian, Sprecher der US-Armee in Afghanistan, im Kaffeegarten des Isaf-Hauptquartiers und zog schon einmal eine erste, positive Bilanz. „Aufstandsbekämpfung ist eine universell gültige Doktrin“, sagte der Offizier damals dem Tagesspiegel und verwies insbesondere auf die Erfahrungen der US-Armee im Irak. Im sunnitischen Dreieck hatten es US-Offiziere 2006 und 2007 mit zähen Verhandlungen, viel Geld, Waffenlieferungen und Infrastrukturmaßnahmen geschafft, die Stämme von Al Qaida loszueisen und sie im eigenen Sinn gegen den Aufstand umzudrehen. „Manche Dinge lassen sich nicht auf Afghanistan übertragen, des unterschiedlichen Umfelds wegen, manche aber schon.“ Zum Beispiel die Idee der Stammesmilizen. In bestimmten Regionen könnten die Einwohner ihre Sicherheit selbst in die Hand nehmen, sagte Julian. US-Spezialkräfte fungierten als Ausbilder. „Das Projekt in Wardak läuft gut, sprechen Sie doch mit den Verantwortlichen dort.“

Halim Fidai, der Gouverneur von Wardak, steht dem der Begriff „Stammesmiliz“ dagegen reserviert gegenüber; ebenso dem Beispiel des Irak. „Die Stammesleute kennen ihre Umgebung, die Familien, die Probleme einer Region. Sie wissen, wer sich den Aufständischen anschließt.“ Doch Gemeinde-, nicht Stammeschefs wählten die Führer und Rekruten unter den Männern ihres Dorfes aus, sagte er im Jahr 2009 in einem Gespräch mit dieser Zeitung. Sind Dorf- oder Gemeindechefs von Stammesstrukturen und den dazugehörigen ethnischen Rivalitäten unabhängig? Fidai blieb die Antwort schuldig, er sprach lieber von einer afghanischen Zivilschutztruppe. Die sei keine Kampftruppe, sondern nur gehalten, Aufständische den regulären Kräften, Armee und Polizei anzuzeigen, die dann die Verfolgung übernähmen. „Deshalb lassen unsere Einheiten sich nicht mit den sogenannten ‚Söhnen des Irak’ vergleichen, die 2006/2007 im sunnitischen Dreieck gegen die Al Qaida eingesetzt wurden.“

Doch wie fließend der Übergang vom Aufständischen zum Zivilschützer sein kann, zeigte sich bereits 2008 in Kundus. Oberst Rainer Buske, 2008 Kommandant des deutschen Provinzwiederaufbauteams, vermutete damals, dass ein Gutteil der Raketenangriffe, die das Lager heimsuchten, nicht auf das Konto der Taliban, sondern von Mir Allam gingen, eines berüchtigten Haudegens aus der Zeit des Bürgerkrieges. Sein Ziel: erst eine Bedrohungslage schaffen und sich anschließend gegen klingende Münze als Retter engagieren lassen. Auch Abdullah Saq, Milizenchef in Imam Sahib, unweit von Kundus, scherte Juni 2010 aus dem Regierungslager aus und lief samt seinen Leuten und Waffen zu den Taliban über.

Kurz vor der jüngsten Afghanistankonferenz in Kabul machte General Petraeus seinen Antrittsbesuch bei Hamid Karsai und drängte ihn, grünes Licht zu geben, um das Milizenprogramm noch auszuweiten. Der Präsident weigerte sich zunächst, lenkte nur widerstrebend ein – offenbar weil ihm eine Gefahr vor Augen stand: Mithilfe lokaler Warlords wie Mir Allam sichern sich die Isaf und damit auch die in der Isaf engagierten Staaten die direkten Kontakte zu den Regionen. Die ohnehin bei den Isaf-Nationen unbeliebte und diskreditierte Karsai-Regierung könnte dadurch vollends zur Schimäre werden – machtlos und nur noch dazu da, im Ausland das Bild eines vermeintlichen Zentralstaates vorzuspiegeln.

Militäranalytiker fordern deshalb die Dezentralisierung der Sicherheit – wie Marc Lindemann, Autor des Buches „Unter Beschuss“. „Wir müssen mit den lokalen starken Männern zusammenarbeiten“, sagt der Ex-Hauptmann, bis 2009 deutscher Nachrichtenoffizier in Kundus. Die regulären afghanischen Militärs und Polizisten sollten langfristig „nur noch als Regulativ eingesetzt werden, das dann zentral geführt in innerafghanische Kämpfe eingreift“.

Gelegentlich läuft es wohl umgekehrt, wie wiederum ein Blick in die jetzt zugänglich gemachten Akten zeigt: Am 4. Dezember 2009 meldet der geheime Tagesbericht einen Streit zwischen afghanischen Soldaten und Polizisten. „Das Wortgefecht eskalierte, und Armee und Polizei begannen, aufeinander zu schießen. Der stellvertretende Gouverneur von Uruzgan befahl Maitullah Khan (von der Uruzgan-Miliz), die Ordnung wiederherzustellen.“– Der Bericht fährt in gewohnter Manier fort: „1 ANA (afghanischer Armeeangehöriger) KIA (getötet), 3 ANP (afghanische Nationalpolizisten WIA (verwundet), 6 LN (Local Nationals) verletzt.“

Das legt die Frage nahe, ob die Milizen neben afghanischer Armee und Polizei die viel zitierte dritte Säule der Sicherheit sind – oder nicht bereits die erste.

Marc Thörner

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