zum Hauptinhalt
Eine Mutter badet Kinder in einem Flüchtlingscamp in Somalia.

© dpa

Afrika und Europa: Debatte um Flüchtlinge als Weckruf

Europa sollte Entwicklungshilfe an eine realistische Bevölkerungspolitik afrikanischer Regierungen koppeln. Ein Kommentar unseres Afrika-Korrespondenten.

Ein Kommentar von Wolfgang Drechsler

Der Widerspruch könnte größer kaum sein. Während auf Investment-Konferenzen, aber auch in den Medien seit Längerem der Aufstieg Afrikas bejubelt wird, sehen vor allem jüngere Afrikaner in der gefährlichen Flucht über das Mittelmeer oft den einzigen Ausweg aus Stillstand und Not.

Zwischen den Wachstumszahlen und den konkreten Lebensumständen vieler Afrikaner liegen Welten. Während in den meisten Ländern kleine, selbstsüchtige Eliten aus dem zeitweiligen Aufschwung der Rohstoffpreise Kapital geschlagen haben, hat sich an der tristen Lage des überwiegenden Teils der Bevölkerung wenig geändert. In Nigeria, der gerne zum Hoffnungsträger verklärten, größten Volkswirtschaft Afrikas, leben mehr als 100 Millionen der inzwischen 175 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze.

Eliten schlagen Kapital - den Lebensstandard hebt das nicht

Groß ist deshalb in Europa die Sorge, die Migration aus dem Süden könne aus dem Ruder laufen. Gegenwärtig stammen „nur“ rund 20 Prozent aller Flüchtlinge aus Afrika. Das könnte sich bei fortgesetzter Apathie schnell ändern. Die Vereinten Nationen weisen in ihrem jüngsten Bericht zur Bevölkerungsentwicklung darauf hin, dass in Afrika die Zahl der Menschen weiter massiv steigt und sich bis 2100 wohl fast vervierfacht – von heute 1,2 auf rund 4,5 Milliarden. Schon jetzt können fast alle afrikanischen Länder ihre Menschen nicht ernähren. 35 der 48 Länder in Subsahara-Afrika sind Lebensmittelimporteure.

Wer glaubt, der enorme Zuwachs würde sich mit einem höheren Lebensstandard in Afrika irgendwann von selbst erledigen, unterliegt einem Trugschluss. Das patriarchalisch geprägte Afrika tickt nach anderen kulturellen Regeln. Frauen, die nicht gebären, werden oft verlassen. Verwendet eine Frau Verhütungsmittel, argwöhnen Männer oft, sie wolle fremdgehen. Um daran etwas zu ändern, müssten die Machtstrukturen zwischen Mann und Frau in Afrika grundsätzlich verändert werden. Doch das braucht Zeit, die Afrika nicht hat.

Bevölkerungswachstum zu wenig einbezogen

Statt über die angeblich zu geringe Entwicklungshilfe zu streiten, müssten die vielen unfähigen Regierungen in Afrika durch eine Kopplung der Hilfsgelder an eine realistische Bevölkerungspolitik gedrängt werden, die hohe Geburtenrate mit weit mehr Nachdruck als bislang anzugehen. Sonst geht jeder kleine Fortschritt sofort wieder verloren. Im Westen schreckt man aber vor Forderungen nach einem kulturellen Wandel zurück, aus Angst, als „Rassist“ zu gelten. Daneben hat eine Allianz aus Vatikan, amerikanischen Evangelisten, Kulturrelativisten und Muslimen dazu geführt, dass die Familienplanung zu einem Tabu der Entwicklungspolitik geworden ist.

Dabei könnte mit einer intensiven, von Afrika und den westlichen Geberländern gleichermaßen forcierten Familienpolitik vieles gleichzeitig bewirkt werden. Das Erreichen der Millenniums-Entwicklungsziele der UN – die Armut sollte bis 2015 halbiert werden, ein Ziel, das in Afrika spektakulär verfehlt wurde – wäre weit billiger gewesen, hätte man das Bevölkerungswachstum stärker einbezogen. Ob sich die Lage noch wenden lässt, hängt davon ab, ob der Westen seine kulturellen Berührungsängste überwindet und ob weltweit ein neues Interesse an Fragen der Bevölkerungskontrolle in Afrika erwacht. Die aktuelle Flüchtlingsdebatte könnte vielleicht zumindest in Deutschland gerade noch rechtzeitig zu einer Art Weckruf werden.

Zur Startseite