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AKP-Verbotsverfahren: Kampf der Giganten

Vor dem Urteil im AKP-Verbotsprozess herrscht Ratlosigkeit in der türkischen Bevölkerung. Die kemalistischen Institutionen und die regierende AKP stehen sich unversöhnlich gegenüber und das Volk hat keine andere Wahl, als dem Kampf beider Seiten tatenlos zuzusehen. Die türkische Demokratie steht auf der Kippe.

Das Monument vor dem Justizpalast in Ankara spiegelt die Ausgangslage für die Regierungspartei AKP wider, über deren Verbot das türkische Verfassungsgericht ab Montag berät: Es zeigt eine Personengruppe, in deren Mitte Mustafa Kemal Atatürk entschlossen nach vorne schreitet, gefolgt von einem jungen Fahnenträger auf der einen und einer Justitia-Figur auf der anderen Seite. Die türkische Justiz-Göttin hat keine Augenbinde – den Blick fest auf Atatürk gerichtet, läuft sie dem Staatsgründer hinterher.

Wenn die Verfassungsrichter darüber entscheiden, ob sie die AKP verbieten und 71 ihrer Funktionäre – allen voran Regierungschef Recep Tayyip Erdogan und Staatspräsidenten Abdullah Gül – mit einem Politikverbot belegen sollen, ist zu befürchten, dass sie ihrem Urteil nicht nur juristische Erwägungen zu Grunde legen werden. Das hohe Gericht hat das Visier heruntergeklappt: Es sieht sich dazu berufen, die kemalistische Staatsordnung gegen eine vermeintliche Islamisierung der Türkei zu verteidigen.

Laizismus als Synonym für einen militanten Obrigkeitsstaat

Ganz im Sinne dieses ideologisch verfärbten Rechtsverständnisses, das ein großer Teil des Justizapparates mit der Armee und der linksnationalistischen Oppositionspartei CHP teilt, wirft die Anklage Erdogan und seinen Gefolgsleuten vor, das laizistische Verfassungsgefüge beseitigen zu wollen. Steht der Begriff des Laizismus eigentlich für die Trennung staatlicher und religiöser Angelegenheiten, ist er in der Türkei Instrument in einem System, das Vural Savas, ehemaliger Generalstaatsanwalt beim Kassationsgericht, als "militante Demokratie" bezeichnet. Der türkische Laizimus ist heute mehr ein Synonym für einen militärnahen Obrigkeitsstaat als für Religionsfreiheit. Er ist ritualisierter Verständigungscode einer politischen Kaste, der es kaum um demokratische Fairness geht.

Ein Verbot der AKP würde die Ergebnisse der vorjährigen Parlamentswahlen annullieren, die die AKP mit 47 Prozent der Wählerstimmen klar gewonnen hatte. "Dies käme einem Staatsstreich durch die Justiz gleich", so Soli Özel, Lehrbeauftragter an der Istanbuler Bilgi Universität, in der Financial Times. "Dies ist kein Kampf um Prinzipien, sondern ein Kampf der autoritären republikanischen Eliten um ihre Privilegien."

Andere Ereignisse geraten zur medialen Nebensache

Während der Verbotsprozess nun also in die letzte und entscheidende Runde geht, hat ein anderes Verfahren auf spektakuläre Weise ebenfalls seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht: In einer Festnahmewelle Anfang Juli ließ die Staatsanwaltschaft Istanbul dutzende von Personen festsetzen, darunter zwei pensionierte Generäle und den Präsidenten der Handelskammer von Ankara. Die Beschuldigten sollen, so das Resümee der rund 2500 Seiten umfassenden Anklageschrift, als Mitglieder des terroristischen Netzwerkes Ergenekon geplant haben, einen Putsch der Militärs gegen die AKP-Regierung zu provozieren.

Das zeitliche Zusammenfallen zwischen den Festnahmen und dem Verbotsprozess verleitet viele Beobachter dazu, einen Zusammenhang zwischen den Verfahren zu sehen: Armee und Kemalisten mit dem Verfassungsgericht auf der einen und die AKP-Regierung mit den Strafermittlungsbehörden auf der anderen Seite. "Die Ergenekon-Ermittlungen sind die Vergeltungswaffe der Regierung wegen des Verbotsverfahrens", schreibt der Journalist Güngör Mengi in der Vatan. Und Oppositionsführer Deniz Baykal stilisiert sich derweil zum "Anwalt von Ergenekon".

In dem Spannungsfeld zwischen AKP-Prozess und Ergenekon-Verfahren geraten andere Ereignisse wie der jüngste Anschlag auf das US-Generalkonsulat in Istanbul oder die Entführung der drei deutschen Bergsteiger durch die PKK zur medialen Nebensache. Während sich in den Zeitungen eine gewisse Ratlosigkeit der Kommentatoren herauslesen lässt, herrscht in der Bevölkerung, folgt man den Gesprächen in den Straßen und den Cafes, Verunsicherung: Keiner kann absehen, wohin die Türkei schlittert.

Die türkische Bevölkerung ist müde geworden

Von der großen Euphorie des Vorjahres, als in mehren Städten Zehntausende für die Ideale der Republik demonstrierten, ist nichts mehr zu spüren. Nur wenige folgen den Aufrufen der kemalistischen Denkvereine, um gegen das Ergenekon-Verfahren zu protestieren, und kaum jemand geht für die AKP auf die Straße.

Gerade in dieser Lethargie offenbart sich eines der größten Probleme der türkischen Demokratie: Es fehlen starke zivilgesellschaftliche Strukturen, und es fehlt als Gegengewicht zur AKP eine politische Opposition mit Vision. Gleichzeitig droht die Justiz, mit der mächtigen Armee im Rücken, die Grenzen einer sich an der Gewaltenteilung orientierenden Rechtsprechung zu überschreiten. Der Journalist Oral Calislar von der "Radikal" sieht in der jetzigen Situation eine Krise des autoritären Staat, der ein Relikt des Militärputsches von 1980 sei – aber auch eine Chance, diesen mit einer neuen Verfassung zu überwinden. "Es kommt nun darauf an, eine demokratische Übereinkunft zu erzielen, die alle Kreise akzeptieren."

Devrim Tuncel ist Deutsch-Türke und arbeitet als Rechtanwalt in Berlin. Sein besonderer Schwerpunkt gilt den deutsch-türkischen Beziehungen. Mitte Juli ist er von seinem letzten Türkei-Aufenthalt zurück gekommen, wo er sich ein Bild von der Stimmung im Land machen konnte.

Gastkommentar von Devrim Tuncel

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