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Verbrannte Baumstämme ragen aus Blechtrümmern auf einem vom Buschfeuer zerstörten Areal in Mogo, ungefähr 160 Kilometer südöstlich der australischen Hauptstadt Canberra.

© Chu Chen/XinHua/dpa

Die Lust am Kollaps: Darum finden Apokalyptiker so viel Gehör

Die Propheten eines politischen, religiösen oder klimatischen Kollaps machen blind für tatsächliche Lösungen. Trotzdem haben sie Konjunktur. Ein Essay.

Jeremy Adelman lehrt Geschichte in Princeton, wo er auch das Global History Lab leitet. Von ihm erschien zuletzt die Monografie „Worldly Philosopher: The Odyssey of Albert O. Hirschman“. Das folgende Essay ist eine leicht gekürzte Fassung eines Artikels im Digitalmagazin „Aeon“.

Aus allen Richtungen ertönt die Botschaft: Die Welt, wie wir sie kennen, bewegt sich auf etwas Schlimmes zu. Aus der rechten Ecke hören wir, dass „der Westen“ und „die jüdisch-christliche Zivilisation“ in die Zange ausländischer Ungläubiger und einheimischer vermummter Extremisten geraten sind. Von links ertönt eine Niedergangslitanei, die um Staatsstreiche, Überwachungsregime und den Zusammenbruch des Kapitalismus kreist.

Für Wolfgang Streeck, den prophetischen deutschen Soziologen, heißt die Alternative Kapitalismus oder Demokratie. Wie viele, die auf Verfall eingestellt sind, stellt uns Streeck vor die Wahl: Fegefeuer oder Paradies. Und wie so viele vor ihm besteht Streeck darauf, dass wir den Vorhof eines Infernos passiert haben.

„Bevor der Kapitalismus in die Hölle geht“, behauptet er in seiner Essaysammlung „How Will Capitalism End“ (Verso 2016), „wird er auf absehbare Zeit in der Schwebe bleiben, tot oder kurz davor, an einer Überdosis seiner selbst zu sterben, aber immer noch sehr präsent, da niemand die Macht haben wird, seinen verwesenden Körper aus dem Weg zu räumen.“

Tatsächlich ist der Gedanke des Niedergangs etwas, worüber sich extreme Linke und Rechte einig sind. Neonazis und Kreuzritter der sozialen Gerechtigkeit ziehen vor Julian Assange, dem Avatar eines apokalyptischen Populismus, gleichermaßen den Hut. Gegenüber einem Reporter bemerkte er, wie die Macht Amerikas, die Quelle allen planetaren Übels, in einem ähnlichen Verfall begriffen sei wie einst die des Römischen Reichs.

Roms Untergang dräut weithin als Präzedenzfall. Die Welthistoriker haben ihre Rolle als Schwarzmaler tüchtig gespielt. Zur selben Zeit, als der englische Historiker Edward Gibbon 1776 den ersten Band von „Verfall und Untergang des Römischen Reiches“ veröffentlichte, verabschiedeten sich die amerikanischen Kolonisatoren von ihren mächtigen Anführern; einige lasen das als Omen.

Gemetzel an der Westfront

Der Erste Weltkrieg brachte der Moderne das Endzeitdenken. Dessen berühmteste Version lieferte Oswald Spengler 1918 mit dem „Untergang des Abendlandes“. Das Gemetzel an der Westfront in Flandern und die Spanische Grippe, die im selben Jahr bis zu fünf Prozent der Weltbevölkerung auslöschte, ließen diesen Untergang mehr als wahrscheinlich erscheinen.

Spengler führte das noch weiter: Er sagte voraus, dass die westliche Zivilisation zu ihrer Rettung bis zum Ende des Jahrhunderts eine allmächtige Exekutivmacht brauchen werde. Autokraten haben diese Idee seither immer wieder mit Freude aufgegriffen.

Es gehört beinahe zur condition moderne, das Ende der Party eher früher als später zu erwarten. Unterschiedlich sind nur die Versionen dieses Endes. Wird es eine biblische Katastrophe sein, die alle auf einen Schlag erfasst? Oder wird sie sich allmählich vollziehen, in Gestalt eines moralischen Abschwungs oder als Folge der Malthusianischen Bevölkerungsfalle?

Unser niedergangsverliebtes Zeitalter ist in einer Hinsicht bemerkenswert. Nicht nur die Westler stecken in Schwierigkeiten – dank der Globalisierung tun es auch die Restler. Tatsächlich befinden wir uns gattungsweit in einem Schlamassel. Unsere Lieferketten und der Klimawandel haben dafür gesorgt, dass wir einem sechsten Massenaussterben entgegensehen. Wir sollten uns weniger um unseren Lebensstil als um das Überleben insgesamt sorgen.

Kreise der Hölle

Alle Versionen des Niedergangs haben indes Gemeinsamkeiten. So sind sie anfällig für die Vorstellung, dass man den Kreisen der Hölle nur durch eine Katharsis oder eine charismatische Figur entgeht. Vor allem aber ignorieren sie weniger drastische Auswege. In den Niedergang Verliebte haben in ihrem Gesichtskreis einen großen blinden Fleck, weil sie sich eher zu allumfassenden Lösungen hingezogen fühlen als zum grauen Einerlei bescheidener Ansätze. Warum auf Teil- und Stückwerk setzen, wenn man das ganze System umstürzen kann?

Verteidiger einer kollabierenden Lebenswelt. Brasilianischer Indio bei Protesten gegen die Pläne der Regierung in der Hauptstadt Brasilia im April 2019.
Verteidiger einer kollabierenden Lebenswelt. Brasilianischer Indio bei Protesten gegen die Pläne der Regierung in der Hauptstadt Brasilia im April 2019.

© Carl de Souza/AFP

Die Jünger des Untergangs behaupten, das große Ganze zu sehen. Denken wir an die 1972 vom Club of Rome herausgegebene Studie „Die Grenzen des Wachstums“. Mit mehr als 30 Millionen verkauften Exemplaren in 30 Sprachen bot sie ein Porträt des Untergangs voller düsterem Vertrauen auf „Rückkopplungsschleifen“ und „Interaktionen“.

Eine Gegenstimme in den 1970er Jahren gehörte dem Sozialwissenschaftler Albert O. Hirschman. Er sorgte sich um das Verführerische der Untergangspropheten. Er warnte davor, dass schlimme Vorhersagen auf das große Ganze bezogen für Gegenkräfte und positive Ansätze blind machen können. Woher aber der Reiz dieses Verfallsdenkens, wenn die Geschichte nur selten den Vorhersagen entspricht?

Für Hirschman war er auf einen prophetischen Stil zurückzuführen, der sich an Intellektuelle wendete, die sich zu „fundamentalistischen“ Erklärungen hingezogen fühlten und es vorzogen, auf unlösbare Ursachen für soziale Probleme hinzuweisen. Für Revolutionäre ist das, was auf sie wartet, eine Utopie. Auf Reaktionäre wartet die Dystopie.

Vorliebe für das Kühne

Die Vorliebe für das Kühne und Große hat Risiken. Das Unvermögen, im Reformeifer unangekündigte Erfolge und hoffnungsvolle Zeichen zu sehen, führt oft zu mehr destruktiven als konstruktiven Momenten. Hirschman hatte den Preis des Niedergangsdenkens vorhergesehen.

Als er in Weimar aufwuchs, sah er zu, wie sein Land in eine „ideologische Falle“ geriet und sich in Extreme auflöste. Kommunisten und Faschisten kamen Anfang der 1930er Jahre darin überein, die Republik auf der Suche nach ihren rivalisierenden Utopien niederzureißen während sie in allem anderen uneins waren.

Jahrzehnte später beobachtete Hirschman, wie die Lateinamerikaner an mangelnden Aussichten auf demokratische Reformen verzweifelten. Ihre Neigung, überall nur Misserfolge zu sehen, verdunkelte die tatsächlichen, schrittweisen Fortschritte.

Der Niedergang Lateinamerikas hatte den demokratischen Reformismus erfasst. Das Ergebnis war, dass immer mehr Vertrauen in immer extremere Ansichten entstand. Studenten der Universität von Buenos Aires schlossen sich den Reihen der Stadtguerilla an. Am anderen Ende des Spektrums beklagten die argentinischen Reaktionäre das Ende der westlichen Zivilisation und wandten sich paramilitärischen Todesschwadronen zu.

Das Problem des Verfallsdenkens liegt darin, dass es sowohl die Tugendhaftigkeit der allerhöchsten, aber unerreichbaren Lösungen für grundlegende Probleme bestätigt als auch die Enttäuschungen, die wir durch tatsächliche Veränderungen erfahren. Das soll nicht heißen, dass es keine tiefsitzenden Probleme gibt. Aber sie als Beweis für einen unausweichlichen Niedergang zu sehen, lässt unsere Vorstellungskraft verarmen.

Jeremy Adelman

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