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Politik: Alte Gesellschaft, kurze Kindheit

Jugendforscher Hurrelmann plant umfassende Studie über Lage von Drei- bis Zwölfjährigen / „Kinder als Experten in eigener Sache“

Berlin - In Deutschland soll erstmals umfassend und kontinuierlich das Leben von Kindern erforscht werden. Im Auftrag des Kinderhilfswerks World Vision planen der Bielefelder Jugendforscher Klaus Hurrelmann und seine Kollegin, die Pädagogin und Kindheitshistorikerin Sabine Andresen, eine repräsentative Studie über die Lage, das Weltbild und die Wünsche von Drei- bis Zwölfjährigen.

Und während die Politik Kindheit derzeit verstärkt als Ressource entdeckt, um durch Bildung auf ein gelungenes Erwachsenenleben vorzubereiten, versucht Deutschlands bekanntester Jugendforscher eine Art Gegenprojekt: Hurrelmann will das Bild einer Lebensphase zeichnen, die „schrumpft“ – auch durch die Bemühungen, sie den Anforderungen ans Erwachsenenalter anzupassen. Einerseits verlegten gute Ernährung und Gesundheitsvorsorge die Pubertät immer weiter vor, seien 50 Prozent der Mädchen mit etwas über elf Jahren schon keine Kinder mehr. Andererseits komme die Kindheit auch dadurch unter Druck, dass „mit dem ersten Grundschultag schon die Berufslaufbahn beginnt“, sagte Hurrelmann. Die Kindheit habe „in den letzten Jahren aufregende Veränderungen erlebt“. Die Reformpädagogen vor hundert Jahren hätten Kindheit noch als „Schonzeit gesehen, als einen Schutzraum, in dem die Kinder entpflichtet waren von den Aufgaben einer Industriegesellschaft“, sagte Andresen. Man wolle nun auch herausfinden: „Gibt es dieses Moratorium noch?“ Dabei könnten die Ergebnisse brisant für die Debatte um Konsequenzen aus der Bildungsstudie Pisa werden. Andresen: „Die Ganztagsschule zum Beispiel kann ein Gewinn für ein Kind sein, aber auch ein großer Verlust.“

Die wichtigsten Daten der Studie werden nach dem Wunsch der Forscher die Kinder selbst liefern. Man wolle nicht als „unfertige Erwachsene“ auf sie sehen, sondern als „Experten ihrer eigenen Lebenslage“, sagte Hurrelmann. Sie sollen in Fragebögen und Interviews über ihre Beziehungen zur Familie und Freunden Auskunft geben, über ihre Werte und ihr Bild von Welt und Politik und darüber, wie sie auf die Leistungsanforderungen von Familie, Lehrern und Erziehern reagieren. „Wir müssen noch ausprobieren, wie weit wir im Alter runtergehen können“, sagte Hurrelmann. Sehr wahrscheinlich aber seien schon von Fünfjährigen verwertbare Antworten auf Interviewfragen zu erwarten. Für die Kleinsten, die Drei- und Vierjährigen, entwickle man gerade eine geeignete Methode der Befragung, sagte Andresen.

Die Studie soll nächsten Herbst vorliegen und dann, so hofft Hurrelmann, auch dabei helfen, die Situation von Kindern zu verbessern. Man könne Eltern trainieren, Schäden vorbeugen und „Kinderverträglichkeitsprüfungen“ entwickeln mit Aussagen darüber, was Kindern schadet und was ihnen nützt. World Vision, Auftraggeberin der Studie, sagte bei der Vorstellung am Mittwoch zu, das Projekt fortzusetzen. Es lehnt sich auch methodisch an die Shell-Jugendstudie an, die seit 53 Jahren die Lage von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland untersucht und die ebenfalls von Hurrelmann geleitet wird.

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