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Politik: Am Abend unsterblich

Ulrich Khuon, Intendant am Deutschen Theater, erhält den Max-Reinhardt-Ring, benannt nach dem berühmtesten Theaterdirektor. Die Laudatio zu diesem Glücksfall mit Geschichte.

Wir müssen uns Ulrich Khuon als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Theaterdirektor! Theaterdirektor in Berlin!

Natürlich – es gibt noch manch andere schöne und gute Theater auf der Welt. Auch in Berlin. Und keines von ihnen ist das absolut beste, schönste, erstrebenswerteste, denn die Kunst ist keine Wissenschaft und kein Sport, weshalb sie für solch rekordverdächtige Superlative kein Eichmaß kennt. Wunderbarerweise. Doch derart frei von jeder möglichen Anmaßung lässt sich umso beschwingter auch fragen: Was gibt es für einen Intendanten in Deutschland wohl Schöneres und Herausfordernderes als das Oberhaupt des Deutschen Theaters in der Schumannstraße zu sein!?

Gestalter in just dem Haus, in dem die Theatermoderne miterfunden wurde, in dem Max Reinhardt, dieser neben seinem Zeitgenossen Stanislawski sowie dem namenlosen Kollegen aus Goethes „Faust“-Vorspiel wohl berühmteste aller Theaterdirektoren, einst das Spielen, Singen und Sagen hatte. Reinhardt, der personifizierte Geist des Repertoire- und Ensembletheaters, auf den sich das deutsche Theater bis heute gründet. Auf den auch der hier zu Preisende sein Haus und seine Arbeit tagtäglich baut.

Ulrich Khuon erhält den von der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger im Jahr 1930 gestifteten Max-Reinhardt-Ring. Damals wurde das Schmuck- und Sinnstück zum 25-jährigen Jubiläum der Direktionszeit von Max Reinhardt am Deutschen Theater geschmiedet. Sein Original ging nach 1933 in den Exiljahren Reinhardts verloren. Aber der Ring ist im Jahr 1955 nachgeschmiedet worden, die Bühnengenossenschaft hat ihn dann 1958 an Boleslaw Barlog, den Generalintendanten des Schiller- und Schlossparktheaters, verliehen. Nach Barlogs Tod im Jahr 1999 schien der Ring zum zweiten Mal verloren, erst vor einigen Jahren ist er im Barlog-Nachlass wiedergefunden worden. Aber erst jetzt, 55 Jahre nach der letzten Verleihung, ist es wieder so weit: Der Ring hat sich einen neuen Finger gesucht und den Träger dazu gefunden. Ein Ding mit Geschichte.

Ich muss gestehen, dass ich bis zur Einladung zu dieser Laudatio von diesem Ring nicht gehört hatte. Beim Ring denkt man ja zuerst an den des Nibelungen oder an die Parabel in Lessings „Nathan dem Weisen“, bei der es gleichfalls nicht auf das verlorene Original-Schmuckstück ankommt, sondern auf den Sinn der Stiftung. Im Übrigen gibt es noch den Wiener Iffland-Ring, den immer ein Schauspieler deutscher Sprache auf Lebenszeit erhält; ihn besitzt gegenwärtig Bruno Ganz. Und die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste verleiht jedes Jahr den Gertrud-Eysoldt-Ring für eine herausragende schauspielerische Leistung. Ihn haben schon Gert Voss und Edith Clever erhalten, Ulrich Mühe einst vom Deutschen Theater, Martin Wuttke und dann Ulrich Matthes für seinen George in „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ sowie Nina Hoss für ihre Medea, beide am Deutschen Theater.

Die Ring-Patronin Gertrud Eysoldt – sie war die erste der großen Protagonistinnen im Theater von Max Reinhardt. Und nun also: Ulrich Khuon und dieser neue alte Reinhardt-Ring.

Das fügt sich, zumal 2013.

Vor 80 Jahren begann in Deutschland die NS-Herrschaft. Alle kritischen Künstler, alle jüdischen Künstler wurden von Anbeginn bedrängt, verfolgt, vertrieben. Manche bald schon ermordet. So war es ein letztes Leuchten, dass auf dieser Bühne des Deutschen Theaters am 1. März 1933, als Hitler und Goebbels bereits vier gewalttätige Wochen regierten, noch Max Reinhardts Inszenierung der Hofmannsthal’schen Version von Calderón de la Barcas „Großem Welttheater“ Premiere hatte. In dem allegorischen Spiel verklagt ein Aufbegehrender die herrschende Ordnung: „So – (gemeint ist die Ordnung) – so nennt ihr die Gewalt, / Die uns in den Boden druckt.“

Gleich nach der Premiere hat Max Reinhardt Deutschland für immer verlassen. Aber seine Aufführung spielte hier nun jeden Abend, 31-mal hintereinander, bis die Nazis am 31. März 1933 über Reinhardts Welttheater in Berlin und Deutschland den eisigen Vorhang fallen ließen.

Man muss also noch einmal an den Namenspatron des Ringes erinnern. Nicht alle kennen ihn heute noch, dessen Büste draußen vorm Deutschen Theater steht. Gegenüber dem Kopf von Otto Brahm.

Otto Brahm, von 1894 bis 1905 Direktor des Deutschen Theaters, der vor allem die sozialkritischen Dramen Henrik Ibsens und Gerhart Hauptmanns von Berlin aus durchgesetzt hat, holte schon im ersten Jahr seiner Direktion einen gerade 20-jährigen Schauspieler von Salzburg ans Deutsche Theater: Max Reinhardt, den in Baden bei Wien als Max Goldmann geborenen Sohn eines jüdischen Tuchhändlers. Kurioserweise reüssiert der blutjunge Max in Berlin unter höchst naturgetreuen Bärten und Runzelmasken zunächst als virtuoser Verkörperer alter und uralter Männer.

Doch auch ohne Maske eilt Reinhardt der Zeit schnell voraus. Als Akteur, Regisseur und Theaterunternehmer sprengt er alle Fesseln des gerade aktuellen Naturalismus: Er gründet mit einigen Mitspielern des Deutschen Theaters erst die sezessionistische Kleinbühne „Schall und Rauch“, übernimmt dann die Leitung des Neuen Theaters am Schiffbauerdamm – heute bekannt als Berliner Ensemble. Ab 1905 erwirbt er dazu das Deutsche Theater, das damals noch eine Privatbühne war, und baut ihm sogleich auch die Kammerspiele als zweite Bühne an. Reinhardts erste Regie, zunächst am Schiffbauerdamm, gilt Oscar Wildes noch skandalträchtiger, wegen der Zensur als geschlossene Vorstellung gezeigter „Salome“. Die Aufführung vor einem magisch vertieften Rundhorizont unterm Sternenhimmel-Bühnenbild des Malers Lovis Corinth wird Ende September 1904 zum Sensationserfolg beim Publikum ebenso wie beim kommenden Starkritiker Alfred Kerr.

Max Reinhardt verwandelt das Theater von der deklamierenden Verkörperung vor nur dekorierenden Kulissen zur tatsächlich vielschichtigen Inszenierung. Er macht die Bühne zum eigenen Kunst- und Weltraum. Ohne ästhetische oder gar politische Theorie spürt Reinhardt instinktiv, dass das neue Jahrhundert auch ein anderes Theater verlangt. Für Reinhardt lassen die neuen Techniken und Effekte des Films und des bald darauf avancierenden Radios die alte Kunst des Theaters keineswegs als veraltet erscheinen. Als Erster nimmt Reinhardt die Einflüsse der neuen Medien und bildenden Künste auf.

Zur Sternstunde wird so Max Reinhardts Vision und Version von Shakespeares „Sommernachtstraum“, den er 1905 im Neuen Theater und später dann auch im Deutschen Theater mit einem illusionistischen Wald aus echten Bäumen auf der erst wenige Jahre zuvor erfundenen elektrischen Drehbühne inszeniert, zur Musik von Mendelssohn-Bartholdy. Unter den Darstellern auch Gertrud Eysoldt als weiblicher Puck, die statt nur eine feenhafte Märchengestalt die geheime Regisseurin des sommernächtlichen Traum- und Albtraums war.

Bei der Premiere ruft das Publikum zum ersten Mal in der Geschichte des Theaters auch den realen Regisseur auf die Bühne. Es ist in Deutschland die Geburtsstunde des modernen „Regietheaters“ – aber welches Theater hätte nicht von jeher der Regie bedurft.

Shakespeares „A Midsummer Night’s Dream“, dieses Komödie und Tragödie, Mythos, Volkstheater und psychoanalytisches Traumspiel verbindende Drama wird Reinhardt dann noch zwölfmal inszenieren: zuletzt als Emigrant in Kalifornien in der legendären Hollywood Bowl und 1935 im Hollywood-Studio als sein filmisches Testament. Der erst 14-jährige Mickey Rooney, später ein berühmter Kinokomiker, spielte da den Puck als bösen Kindskopf, der seine manipulativen Zaubersäfte wie Gift einsetzt und dessen geisterhaft kalte Augen schon einen Menschheitsschrecken verheißen, den bis dahin kein Theater noch erträumen konnte.

Am 31. Oktober 1943, vor jetzt 70 Jahren, ist Max Reinhardt, der bedeutendste Theaterdirektor der Moderne, einsam in einem New Yorker Hotel gestorben.

Ein großer Sprung – nun in die Gegenwart. „Zukunft braucht Herkunft“, sagt der Philosoph Odo Marquard.

Ulrich Khuon und ich sind uns vor 30 Jahren zum ersten Mal begegnet. Der später allzu früh, weil allzu jung in Berlin verstorbene Dramatiker und Drehbuchautor Thomas Strittmatter hatte 1983 sein Stück „Polenweiher“ geschrieben, das im Januar 1984 im Stadttheater Konstanz uraufgeführt wurde. Ulrich Khuon war damals der Konstanzer Chefdramaturg, er stammt aus Stuttgart, Strittmatter kam aus dem Schwarzwald, und ich sah damals als Juror des Berliner Theatertreffens und des Mülheimer Dramatikerpreises die schöne, geradezu ergreifende Aufführung eines Schwarzwälder Dorfdramas. In jenem „Polenweiher“ lag nicht nur die Leiche eines fremden Mädchens, sondern ein Stück weit die ganze braune deutsche Geschichte. Khuon brachte seinen im Theater anwesenden Autor und den angereisten Kritiker sofort zusammen, er wirkte also schon damals: als ein Vermittler, als Beweger und Anreger – auf seine kluge, schwäbisch freundliche, hintergründig bescheidene, dennoch immer bestimmte Weise.

Ulrich Khuon, der später noch Theaterleiter in Konstanz wurde und dann ein auch über die Orts- und Landesgrenzen bekannter, hoch erfolgreicher Intendant in Hannover und am Hamburger Thalia Theater, er verstand seine Theaterarbeit von Anfang an als Zusammenwirken auch mit zeitgenössischen Autoren. Vornehmlich für die Gegenwartsdramatiker hatte Max Reinhardt, der immerhin den jungen Brecht und den jungen Carl Zuckmayer als Dramaturgen beschäftigte, einst die Kammerspiele des DT gebaut. Bei Khuon gehören die Zeitgenossen längst gleichberechtigt mit den sogenannten Klassikern auch auf die große, die größtmögliche Bühne. Dafür hat er schon vor seiner Berliner Zeit die hier weitergeführten „Autorentage“ erfunden. Nicht nur zur Festivalzeit, auch im Alltag sind die Autoren von heute bei ihm ganz gegenwärtig. Das reicht von Elfriede Jelinek bis zu Dea Loher, von Yasmina Reza bis Moritz Rinke und Roland Schimmelpfennig. Und fast ein neues Stück im alten ist ja auch „Ödipus Stadt“.

Der Dramatiker und Dramaturg John von Düffel hat für das Deutsche Theater darin Stücke und Stoffe von Aischylos, Sophokles und Euripides, also den Begründern des Welttheaters, verbunden zu einem dramatischen Diskurs: einmal durch und über den Ödipus-Mythos, zum anderen über die Polis, die antike Stadt, den ersten Ort der Politik – und darin den Wechsel zwischen Autokratie und Demokratie, zwischen Staatsraison, Religion und rebellischer Moral.

„Ödipus Stadt“ in der Inszenierung von Stephan Kimmig ist erst kürzlich als Gastspiel des Deutschen Theaters im Nationaltheater von Peking gezeigt und von den chinesischen Zuschauern mit schier ungläubigem Staunen und heftiger Spannung verfolgt worden. Demnächst reist die Aufführung auch nach Chile, wo man im Herrscher Kreon womöglich den Schatten eines Pinochets und der eigenen Geschichte erkennen wird.

Das sind die Glücksfälle. Das großartige Ensemble des Deutschen Theaters strebt sie immerzu an: die Glücksfälle. Ebenso wie die Regisseure Andreas Kriegenburg, Stephan Kimmig, Nicolas Stemann, Michael Thalheimer und all die anderen, denen Ulrich Khuon gerne vertraut. Doch Glücksfälle sind in der Kunst wie im Leben nicht der Alltag. Auch nicht am Deutschen Theater, das seine neue Spielzeit sehr groß mit dem Motto „Demokratie und Krieg“ überschrieben hat. „Demokratie und Krieg“: Die Sorge ist gewiss evident, die nun mitspielt, seit das eine das andere nicht mehr so ohne Weiteres ausschließt oder angesichts neuer realer oder nur vermeintlicher Bedrohungen sogar wieder zu bedingen scheint. Man spürt den Anspruch an sich selbst und an sein Publikum. Die Herausforderung. Aber man ahnt auch die mögliche Selbstüberforderung, seit das Theater in seiner griechisch-deutschen Tradition des gesellschaftlichen Forums und der Aufklärung nicht mehr, wie noch zu Reinhardts Zeiten, im selbstverständlichen Zentrum des Gemeinwesens oder zumindest eines gebildeten Stadtbürgertums steht. Seit das Theater kein Leitmedium mehr ist und eine Kunst unter vielen.

Das Theater heute muss darum, zumindest im Glücksfall, auch wesentlich sein. Nicht andere Medien imitieren, sondern sie transzendieren. Die Dichtung und die Verdichtung suchen. Manchmal sollte es, bevor es zu uns kommt, erst mal zu sich kommen. Viele spielen heute auf den deutschen Bühnen frontal, mikrofongestützt, nebeneinander. Und ziemlich laut. Selten tauschen sie noch einen Blick miteinander. Oder gegeneinander. So, als wäre das Aug in Auge gleich Kitsch oder als wäre das Leise gleich unhörbar. Im Dauersound einer Informationsgesellschaft, die noch keine Wissensgesellschaft bedeutet, ist das Leise aber vermutlich der lauteste Schrei. Ist die Stille die größte Konfrontation. Dies hier nur als Bemerkung beiseite, wie es im Theater heißt.

Ulrich Khuon, der einer der nachdenklichsten von allen Intendanten ist, weiß das alles ohnehin. Man muss ihn sich auch insoweit als glücklichen Menschen vorstellen – in Abwandlung des Satzes von Albert Camus über seinen mythischen, rebellischen Sisyphos, der mit der Würde des Absurden zugleich Herr und Umwälzer seines Felsen ist. Auch ein Theaterdirektor wälzt ja zwischen Abgrund und Gipfel so manchen Brocken.

Im Jahr 1930, dem Stiftungsjahr dieses Rings, hat der Privatunternehmer Max Reinhardt gefordert, dass der Staat, ohne in die Freiheit des Theaters einzugreifen, in Zukunft dessen Häuser und ihre festen Ensembles in ihrer Existenz sichern müsse. Genau dafür streitet heute auch der Intendant Ulrich Khuon: in Solidarität mit bedrohten Theatern in West- und Ostdeutschland, im Bewusstsein, dass zum Sozialstaat der Kulturstaat gehört, denn der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Kultur ist im Licht der Aufklärung ein Ferment der Demokratie, und das Gegenteil von Kultur ist – die Barbarei.

„Ich glaube an die Unsterblichkeit des Theaters“, diesem Bekenntnis fügte Max Reinhardt 1930 in seiner berühmten „Rede über den Schauspieler“ geisterhaft aktuell hinzu: „Wir können heute über den Ozean fliegen, hören, sehen. Aber der Weg zu uns selbst und zu unserem Nächsten ist sternenweit. Der Schauspieler ist auf diesem Weg.“ Er sei es, wenn er „mit dem Licht des Dichters“ ins Dunkel der eigenen Abgründe und der menschlichen Seele steige und von dort verwandelt wieder auftauchen könne. Ulrich Khuon wiederum hat das Theater bisweilen eine „Dunkelkammer der Passionen“ genannt und hat Max Frisch zitiert: „Manchmal scheint mir, dass jedes Buch, so es sich nicht befasst mit der Verhinderung des Kriegs, mit der Schaffung einer besseren Gesellschaft usw. sinnlos ist, müßig, unverantwortlich (…), es ist nicht die Zeit für Ich-Geschichten, und doch vollzieht sich das menschliche Leben oder verfehlt sich am einzelnen Ich. Nirgends sonst.“

Das trifft. Auch die Ambivalenz des Theaters und seine Chance: die große hyperkomplexe Geschichte der Welt immer wieder neu zu erzählen in der Geschichte der Einzelnen, die sich verwandeln in Andere, in Fremde und zugleich noch unbekannt Vertraute von uns selbst. So, dass der getroffene Zuschauer sich fragt: Woher wissen die das von mir?

– Leicht gekürzte Version der am Freitagabend im DT gehaltenen Preisrede

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