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Politik: Am Limit

Die US-Militärführung schlägt Alarm

Das US-Verteidigungsministerium bezeichnet die Situation im Irak inzwischen als „sehr dramatisch“. Die Anschlagserie ist ungebrochen, da der Wahltag am 30. Januar nahe rückt. Auch die Verbündeten der Amerikaner zeigen Zeichen der Nervosität. So soll der britische Premier Tony Blair von Washington einen baldigen Abzugsplan gefordert haben, um damit ein Signal zu geben, wie der „Daily Telegraph“ berichtete. Damit könne die Übergangsregierung gestärkt, die Rebellen könnten geschwächt werden. Die Regierung in London dementierte den Bericht allerdings.

Angesichts der unkontrollierbaren Sicherheitslage hatte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld unlängst den pensionierten Vier-Sterne-General Gary Luck zur Überprüfung der gesamten Militärstrategie nach Bagdad geschickt. Luck soll alle Bereiche des Einsatzes von der USTruppenpräsenz bis hin zu Strategien zur Niederschlagung des Aufstands untersuchen. Der ehemalige Oberbefehlshaber der US-Armee in Südkorea und Berater von General Thommy Franks während des Irakfeldzuges wird sich aber besonders genau den Ausbildungsstand der neuen irakischen Armee und der Polizei ansehen. Und da gibt es nicht viel Erfreuliches zu berichten.

Und er wird wohl auch nach Washington berichten, dass die Stimmung unter den US-Soldaten auf dem Tiefpunkt ist. Es vergeht kein Tag ohne Tote. Die Zahl der Verletzten liegt schon über 10 000. Es gibt keinen Ort im Irak, wo die US-Soldaten noch sicher sind. „Viele schreiben einen Abschiedsbrief, bevor sie auf Patrouille gehen. Noch nie war es so gefährlich wie jetzt“, sagt Sergant O’Leary aus Mossul.

Der Kommandeur der Heeresreserve, James Helmly, schlug in einem Memorandum Alarm: Die Streitkräfte seien wegen „verfehlter“ Maßnahmen des Pentagons total überlastet und stünden vor dem Zusammenbruch. Drastisch verlängerte Einsätze, kurzfristige Einberufungen und Ausrüstungsmängel hätten die Reserve derart stark strapaziert, dass die Gefahr bestehe, dass künftige Missionen nicht mehr erfüllt werden könnten. Heeresreservisten und Nationalgardisten stellen rund 40 Prozent der etwa 150 000 US-Soldaten im Irak. Die Soldaten sollen in Zukunft bis zu 24 Monate Dienst leisten.

Dabei war den Soldaten für die Zeit nach der Erstürmung der Rebellenhochburg Falludscha eine bessere Sicherheitslage versprochen worden. „Die Zahl der Anschläge hat zwar abgenommen, dafür ist die Sprengkraft und Präzision der Bomben höher geworden“, sagt Brigadegeneral David Rodriguez. Ein Beispiel sei der Anschlag auf einen Bradley-Schützenpanzer der US-Armee in Bagdad, bei dem kürzlich alle sieben Besatzungsmitglieder getötet wurden. Der Bradley ist das am zweitstärksten gepanzerte Fahrzeug der US-Armee.

Die neue irakische Armee sollte nach und nach Sicherheitsaufgaben übernehmen. Sie ist aber bei Einsätzen oft nur als Alibi dabei. Die Ausbildung und Einsatzbereitschaft ist noch lange nicht so weit. Und es gibt konkrete Hinweise, dass Armee und Polizei von Aufständischen unterwandert sind.

Der Geheimdienstchef des Iraks, General Mohammed Abdullah Schahwani, sagte unlängst, welche Streitmacht den Amerikanern und Irakern im Widerstand gegenübersteht. „Ich bin der Überzeugung, der Widerstand ist größer als die Zahl der amerikanischen Truppen im Irak. Wir haben Erkenntnisse, dass der Widerstand mehr als 200 000 Mann stark ist.“ Bisher ging man in Bagdad von einer Zahl um 20 000 aus. Den Kern sollen etwa 40 000 Kämpfer bilden, die von einer großen Zahl von „Teilzeit-Kämpfern“ und Freiwilligen unterstützt werden, welche den Rebellen jede Unterstützung und Unterschlupf gewähren. Die größte Unterstützung finden die Aufständischen nach Kenntnis des Geheimdienstgenerals in den sunnitischen Gebieten. Ihre Stärke würden sie aus den eng verflochtenen Stammesverbindungen beziehen und durch die Verbindungen zur aufgelösten irakischen Armee, die einmal 400 000 Mann zählte.

Schahwani sieht vor allem Angehörige der verbotenen Baath-Partei Saddam Husseins in Bagdad und Mossul als Führer des Widerstands. Die gefährlichste Fraktion sei diejenige, die nach wie vor in Treue zu Saddam hält, etwa 20 000 Mann stark. Führende Figuren des Ex-Regimes organisierten von Syrien aus den Widerstand.

Erwin Decker[Kirkuk]

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