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Politik: Am Montag feiert der Altkanzler seinen 70. Geburtstag. Erinnerungen an ein deutsches Denkmal

Helmut Kohl habe ich das erste Mal aus nächster Nähe Ende der sechziger Jahre gesehen, also vor über 30 Jahren. Das war in Hamburg, im Hause des "Zeit"-Verlegers Gerd Bucerius.

Helmut Kohl habe ich das erste Mal aus nächster Nähe Ende der sechziger Jahre gesehen, also vor über 30 Jahren. Das war in Hamburg, im Hause des "Zeit"-Verlegers Gerd Bucerius. Bucerius stellte den damals neu aufstrahlenden Jungstar in seiner rosa Villa am Leinpfad der in der Wolle rot eingefärbten Hamburger Presse von "Zeit", "Stern", "Spiegel" und "Morgenpost" vor. Der damalige rheinland-pfälzische Ministerpräsident spürte wohl, dass die meisten Journalisten fast alle Brandt-Sympathisanten waren, die sich seinem Werben für eine neue, offene CDU gegenüber eher störrisch zeigten - zu sehr wirkte noch das Zwei-Lager-Denken der Adenauerschen Restaurations-Ära nach. Ich erinnere mich noch, wie Kohl in der Diskussion auf einmal trotzig sagte: "Ich lese auch Bücher, ich lese vielleicht sogar mehr Bücher als Willy Brandt."

Diese Sätze, die mir damals lächerlich und protzig vorkamen (Kohl sollte wenig später in einem Interview mit dem Schriftsteller Walter Kempowski in einer spießig bildungsbürgerlichen Entgleisung sagen: "In Hölderlin war ich gut."), erscheinen mir im Nachhinein nicht untypisch für die Haltung, mit der Kohl antrat: Er wollte aus dem Schatten, den die Lichtgestalt Brandt intellektuell und moralisch warf, heraus. Und obwohl Kohl später, was seine Machtposition, die Dauer seiner Herrschaft, die Chance, der Kanzler der Einheit zu werden, anlangt, Brandts Kanzlerschaft gewiss in den Schatten stellte - er ist andererseits aus Brandts Schatten nie ganz herausgekommen.

Wenn ich an den damaligen Kohl zurückdenke, der ein Hüne war, klobig, groß, wenn auch noch nicht dick, dann fällt mir eine gewisse Kantigkeit und Eckigkeit auf, für die wir damals in Hamburg das blasierte Schimpfwort "provinziell" hatten. Da war der Dialekt, der Kohl "isch" statt "ich", aber in fehlerhafter Überkompensation "Gechichte" statt "Geschichte" sagen ließ. Gewiss, Dialekt, zumal Pfälzisch, wirkt gemütlich, behäbig, aber in Zusammenhang mit der politischen Phraseologie, der Kohl nicht auszuweichen vermochte, auch ein wenig lächerlich. Da war der eckige Haarschnitt, die unförmige Brille, da waren die schwarzen Bartstoppeln, die seinem Gesicht etwas Finsteres gaben (es wirkte weniger viril als unbedarft): Hatte nicht Nixon wegen ähnlicher Bartbedingungen sein Fernseh-Duell und damit die Wahl gegen John F. Kennedy verloren? Und wiederholte sich nicht in den Konkurrenten Kohl / Brandt die Rivalität zwischen dem konservativen Nixon und dem liberalen Kennedy? Von Kohl wie von Nixon glaubte man, dass sie die Macht um der Macht willen wollten. Von Brandt und Kennedy glaubte man, dass sie eine Mission, eine Utopie verkörperten. Jedoch ist "Europa" eher Kohls Werk, und den Frieden in Vietnam hat Nixon geschaffen.

Und dann war da Kohls Blick, seine Augen. Sie waren unstet, sie wichen der Kamera, dem auf sie gehefteten Blick stets nervös zur Seite aus - bis heute. Kohl, so der Eindruck, ist ein Mann, der fremden Blicken nicht standhalten kann, seine Augen signalisieren mit nervösen Wimpernschlägen, dass hinter dem sicheren Auftreten eine tiefe Unsicherheit, ein herabgemindertes Selbstwertgefühl steckt. Auch dieser Blick machte Kohl Nixon ähnlich. Um nicht missverstanden zu werden: Dass jemand unsicher ist und seine Sicherheit erst im Sieg über die Schwäche gewinnt, ist kein Makel. Politiker müssen nicht über die selbstgewisse Strahlkraft von Waschmittelwerbern verfügen. Trotzdem hat man gegen Nixon angeführt, von so einem würde man keinen Gebrauchtwagen kaufen. Und hat Watergate dieser Volksphysiognomie nicht Recht gegeben? Und was ist mit Kohls schwarzen Kassen? Aber lassen wir die allzu banale Ergründung eines unruhigen Auges: Fest steht, dass Kohl durch Bonhomie, Leibesfülle, durch Solidität und allein durch sein Gewicht seinen ängstlichen, misstrauischen Gesichtsausdruck mehr als kompensierte. Trotzdem sieht er bei öffentlichen Auftritten immer missmutig aus. Als fühle er sich unwohl in der Rolle, die er sich doch selbst geschneidert hat.

Als ich ihn das letzte Mal "live" sah, abgeschirmt durch Leibwächter, umblitzt von Fotografen, in einer Halle der Frankfurter Buchmesse, überragte er alle und alles. Das lag auch daran, dass er noch in der Fülle seines Amtes stand, und irgendwie sah er in seinem Anzug aus, als hätte man ihn aufgepumpt, nicht mit Fett, sondern mit Kraft und Autorität: Lächerlich war an ihm nichts mehr; mit der prallen Kraft des Faktischen strahlte er etwas Unabänderliches, Unverrückbares aus. Als wäre er selbstverständlich und für immer da: nicht "Urgestein", wie wir Journalisten gerne kernig alt gewordene Politiker nennen, aber "Urmasse".

Kohl war groß und gewaltig geworden, nicht mehr nur groß und unsicher, und so hat sich mir das (Fernseh-)Bild eingeprägt, wie er, unerschrocken den Cordon seiner Leibgarde durchbrechend, in Halle auf einen Mann losging, der ihn beworfen hatte. Lothar de Maizière, der kleine, zierliche Chef einer kleinen und schwindsüchtig gewordenen DDR, die auf die D-Mark-Medizin wartete, hat beschrieben, wie der füllige Chef der fülligen Bundesrepublik auf ihn wirkte: erdrückend durch seine körperliche Übermacht nahm er den anderen im Raum die Luft - was für eine Bild für die Wiedervereinigung. Franz Kafka hat in seinem "Brief an den Vater" beschrieben, wie er klein, spiddelig und blaugefroren an der Hand des übermächtigen Vaters ins Schwimmbad mitgezerrt wird; Carl Sternheim lässt den schon erwachsenen Snob Christian Maske seinem Vater, erschauernd in der Erinnerung sagen, dass der Vater in der Kindheit vier Fünftel des Raum gefüllt habe. Auch Kohl ist eine solche Vaterfigur, ein schwarzer Riese, ein Patriarch, ein Pate - überlebensgroß und lange überdauernd, ein Vater, der seiner Partei eine lange Kindheit und also eine lange Unmündigkeit verschrieb. Immer füllte er vier Fünftel des Raums.

Nichts mehr von "Birne", wie der "Titanic"-Cartoonist Traxler Kohl dem Spott seiner intellektuellen Gegner preisgegeben hatte. "Birne", das war eine Adaption aus der Geschichte: den französischen "Bürgerkönig" Louis Philippe hatte man nach der Revolution von 1830 so genannt. Und tatsächlich lässt sich die Kohlsche Restauration, die "Wende" mit der verschwiemelten Gemütlichkeit von Louis Philippes Frankreich vergleichen. Es ging satt, gemütlich, selbstzufrieden, heuchlerisch zu.

Damals, als wir alle Kohl schrecklich "komisch" fanden, habe ich mich bei einem Besuch in London mit einem deutschen Auslandskorrespondenten, dem blitzgescheiten Karlheinz Wocker, getroffen und ihm erzählt, wie peinlich, wie komisch wir Kohl empfänden. Wocker zeigte mir einen Stapel britischer Zeitungen und Zeitschriften, alle mit Fotos von Kohl: Schauen Sie mal, sagte er, für englische oder amerikanische oder französische Fotografen sieht er überhaupt nicht komisch aus! Und es stimmte: die Bilder strahlten Kohls Kraft und Energie aus. Und das zu der Zeit, als der Spiegel in loser Folge "Kohl kaputt" titelte. Und die Titelbilder sogar mit kleinen Birnen garnierte.

Aber auch in Deutschland hat sich Kohl als Steher erwiesen. Er selbst nannte das "Aussitzen". Und sein Regieren bestand im "Aussitzen". Vielleicht hat ihn deshalb die moralische Nervosität seines Nachfolgers Schäuble so verstört, mit der dieser die Parteispenden-Affäre zu bewältigen suchte. Er hätte die Affäre "ausgesessen". Und irgendwie bin ich mir nicht sicher, ob er sie nicht wirklich aussitzt.

Wenn ich an das lange Regiment Kohl denke, dann fällt mir ein, wie gut es sein kann, wenn Bundeskanzler keine begnadeten Rhetoren sind, sondern Kaminplauderer im Pullover und (fast) in Puschen. Deutschland war während der Kohl-Zeit erfreulich unpathetisch, ein Staat nach Hausmannsart und Hausmannskost - die Vaterlandsliebe ging durch den Saumagen. Kohl kein großer Redner? Das kann man so sagen, unwidersprochen. Und doch und doch! War es nicht Kohl, der in Dresden in einer brisanten Situation eine Rede hielt, in der sich Gefühl und Fingerspitzengefühl, diplomatisches Geschick und direkter Appell die Waage hielten - ein Glanzstück deutscher Rhetorik.

Damals konnte man den Mantel der Geschichte fassen. Und Kohl hatte diese Chance. Dass er sie nutzte, dass er beherzt zugriff, dass er die nötigen Fäden zog, dies allein macht Glückwünsche zu seinem 70. Geburtstag so leicht. Wir Deutschen konnten uns 1989 zu Kohl beglückwünschen.

Nach Bismarck heißen Straßen, Plätze, öffentliche Einrichtungen. Und der Bismarck-Hering. Wer weiß, ob nicht eines Tages, wenn Straßen und Plätze auch an den zweiten Einiger erinnern werden, ob dann nicht junge Menschen denken werden, die Kohl-Roulade sei so etwas wie der Bismarck-Hering - die kulinarische Erinnerung an den Kanzler der Vereinigung. Von schwarzen Kassen, von Ehrenwort und Ehrenvorsitzenden wird dann nicht mehr die Rede sein. Übrigens hatte Bismarck ja den (illegalen) Reptilienfond, mit dem er den bayrischen König für die deutsche Einheit kaufte und sich Journalisten willfährig machte.

Hellmuth Karasek

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