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Analyse: Obamas Triumph

Der Präsident hat erreicht, woran seine Vorgänger scheiterten: In den USA kommt die allgemeine Krankenversicherung. Das ist ein historischer Schritt. Eine Analyse von Martin Klingst.

Um 22.45 Uhr Washingtoner Zeit riss es die demokratischen Abgeordneten im US-Repräsentantenhaus von den Stühlen, Jubel brandete auf. In diesem Moment zeigte die Digitalanzeige im Versammlungssaal an, dass 216 Abgeordnete, das notwendige Quorum, der Jahrhundertreform Barack Obamas zugestimmt hatten. Amerika, das stand ab diesem Moment fest, erhält eine grundstürzende Gesundheitsreform, nicht sofort, aber Schritt für Schritt, und einiges davon schon in diesem Jahr.

In absehbarer Zeit werden 32 der insgesamt 47 Millionen nicht versicherten US-Bürger Mitglied einer Krankenkasse sein. Die Kassen dürfen niemanden mehr wegen einer Vorerkrankung abweisen oder wegen zu hoher Arztkosten hinauswerfen. Mehr oder weniger gilt jetzt: Es gibt eine Pflicht, sich zu versichern – und eine Pflicht, zu versichern.

Das ist ein historischer Schritt, für Befürworter wie für Gegner. Für die Unterstützer erfüllt Amerika eine längst überfällige Fürsorgepflicht für seine Bürger, ein ebenso moralisches wie ethisches und ökonomisches Postulat. Sie stellen die allgemeine Krankenversicherung in eine Reihe mit der Einführung der Sozialversicherung vor 75 Jahren und der Krankenversicherung für Rentner vor 45 Jahren, ja gar mit der Einführung der Bürgerrechte für Schwarze.

Für die Gegner hingegen entfremdet sich Amerika von sich selbst, vom Kern seines Gründungsgedankens und seines Auftrags. Sie erblicken in einer allgemeinen Krankenversicherung einen unzulässigen Eingriff des Staates in das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen, in die Freiheit des Individuums. Für sie schlagen die Demokraten einen gefährlichen, unamerikanischen Weg ein und steuern schnurstracks auf einen bürokratischen, staatlich gelenkten Wohlfahrtsstaat, ja, auf den Sozialismus zu.

Vor 100 Jahren hatte Präsident Theodore Roosevelt erstmals eine Reform der Krankenversicherung und Krankenversorgung angemahnt. Viele seiner Nachfolger sahen das ähnlich, unter ihnen auch viele konservative. Am Weitesten reichte der Plan des republikanischen Präsidenten Richard Nixon, der viel weiter ging als das jetzt von den Demokraten gegen den energischen Widerstand der Republikaner beschlossene Gesetz.

Aber die meisten Präsidenten wagten nicht zu handeln. Und wer handelte, scheiterte. Barack Obama ist der Durchbruch gelungen. Auch weil erstmals Ärzte- und Krankenhausverbände, Gewerkschaften, viele Unternehmen und die Pharmaindustrie die Reform unterstützten. Den stärksten Widerstand leistete die Versicherungsindustrie.

Zeit Online

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