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Politik: Andere Wege

Lateinamerikas Staatschefs sind für US-Freihandelspläne kaum zu begeistern – Tausende Demonstranten

Von Michael Schmidt

Berlin - Stell dir vor, es ist Amerika-Gipfel und keiner ist glücklich. Die Demonstranten im argentinischen Seebad Mar del Plata nicht, weil ihnen schon zu oft zu viel versprochen wurde. José Miguel Insulza, der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) nicht, weil US-Präsident George W. Bush mit seinen 33 Kollegen weniger über Arbeitslosigkeit und Armut in Nord- und Südamerika reden will als über seinen Plan einer panamerikanischen Freihandelszone FTAA. Und Bush selbst nicht, eben weil ihm bei diesem Thema viel Gegenwind ins Gesicht bläst.

Die USA sehen im freien Handel von der kanadischen Arktisregion bis Feuerland das wichtigste Rezept für die Überwindung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme Lateinamerikas. Viele lateinamerikanische Staats- chefs, die linken zumal, sehen das anders. Doch was heißt hier eigentlich „links“? Welche Vorstellung von einem richtigen Umgang mit der Globalisierung haben die Linken Lateinamerikas? Welche Antworten geben sie? Die als „links“ etikettierten Präsidenten Chiles, Venezuelas und Brasiliens stehen stellvertretend für drei originär lateinamerikanische Haltungen: „Gestalten, bekämpfen oder Allianzen schmieden“, auf diese Formel bringt Susanne Gratius von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin deren unterschiedliche Herangehensweise.

Der überzeugte Demokrat Ricardo Lagos aus Chile begrüßt die Globalisierung, setzt sich aber für mehr internationale Spielregeln ein. Der weltweit geachtete Brasilianer Lula da Silva gilt als moderater Reformer und Vertreter der Schwellenländer. Und der venezolanische Populist Hugo Chávez, Enfant terrible der internationalen Politik, profiliert sich mittels antikapitalistischer und -amerikanischer Rhetorik als neue Ikone der lateinamerikanischen Linken.

Lagos ist nach Salvador Allende der zweite Sozialist im höchsten Staatsamt Chiles. Der Glaube des promovierten Ökonomen und Juristen an internationale Institutionen und Regeln zeigte sich im UN-Sicherheitsrat während der Irak-Debatte: Chile sprach sich gegen einen Krieg aus. „Was deshalb erstaunlich ist“, so Gratius, „weil Chile enge Beziehungen zu den USA unterhält“ und als eines der wenigen lateinamerikanischen Länder ein bilaterales Freihandelsabkommen mit Washington unterzeichnet hat. Der 15-Millionen-Einwohner-Staat produziert seit dem Ende der Dikatur 1990 hohe Wachstumsraten und hat mit 20 Prozent die niedrigste Armutsquote Lateinamerikas. Wie das? Indem der zum pragmatischen Sozialdemokraten gewandelte Lagos das drakonische neoliberale Wirtschafts-Sanierungsprogramm fortsetzt, das noch unter General Pinochet durchgesetztwurde.

Der einstige Militär Chávez, venezolanischer Linksnationalist mit einem Faible für Baseball, bekämpft die Gloablisierung. Er bezieht einen Großteil seiner Legitimation aus verbalen Attacken gegen den „nordamerikanischen Imperialismus“. Als fünftgrößter Erdölexporteuer der Welt – der zwei Drittel seines Erdöls in die USA exportiert – profitiert Venezuela enorm von dem hohen Weltmarktpreis für Erdöl. Das Geld setzt Chávez geschickt für strategische Allianzen in der Region ein: mit Castros Kuba zum Beispiel. Und zu Gunsten eines regionalen Gegenentwurfs zur FTAA in Bushs Sinne.

Darin weiß er sich mit Brasiliens Lula einig. Dessen Regierung hat zur Enttäuschung seiner Anhänger vor allem aus den sozialen Bewegungen nach innen weniger geändert als versprochen. Seine ambivalente Position zur Globalisierung kommt zum Beispiel dadurch zum Ausdruck, dass er sowohl am globalisierungskritischen Weltsozialforum in Porto Alegre als auch am exklusiven Weltwirtschaftsforum in Davos teilnimmt. Der Wandel nach außen aber ist bemerkenswert: Der 175-Millionen-Einwohner-Staat nimmt erstmals eine regionale Führungsrolle wahr, strebt nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat und macht sich durch neue Bündnisse zum Fürsprecher der Schwellen- und Entwicklungsländer. Dazu gehören die Gruppe der Drei mit Indien und Südafrika, die Gruppe der 20 innerhalb der WTO und die Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur: Integration und Zusammenarbeit, das ist Lulas Antwort auf die Globalisierung.

Ein integriertes Südamerika als eigenständige, international ernst zu nehmende Handlungseinheit – das ist bei allen Unterschieden überhaupt der gemeinsame Nenner der Politik dieser linken lateinamerikanischen Staatenlenker.

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