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Demonstrantin auf einer Kundgebung prokurdischer Aktivisten und Bürgerrechtsgruppen am Samstag in Marseille. Die Teilnehmer gedachten des Doppel-Selbstmordanschlags auf eine Friedensdemonstration in Ankara vor einer Woche. Bei diesem bisher schlimmsten Anschlag der türkischen Geschichte kamen etwa hundert Menschen ums Leben.

© Jean-Paul Pelissier/Reuters

Angela Merkel, die EU und die Kurden: „Die türkische Regierung ist in Panik“

Die Kurdistan-Spezialistin Gülistan Gürbey erklärt, warum nach Jahren des Dialogs die Gewalt zurück ist - und was dies mit der Parlamentswahl am 1. November zu tun hat.

Die EU einigt sich mit Premier Erdogan; es steht zu vermuten, dass das europäische Interesse an seiner repressiven Politik, etwa gegen die Kurden, nachlassen wird. Wie ist die Lage derzeit, Frau Gürbey?
Seit diesem Sommer ist die Gewalt, der Krieg zurück. Wenn die Entwicklung so weitergeht, fürchte ich nicht nur die Rückkehr der Politik der verbrannten Erde der 90er Jahre, als zigtausende Leben und tausende Dörfer ausgelöscht wurden, sondern weit darüber hinaus.

Warum?
Weil wir jetzt durch Syrien eine Regionalisierung des türkischen Kurdenkonflikts haben und eine Erstarkung der Kurden, innen und außen. Die PKK und ihr syrischer Ableger PYD haben im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ Bedeutung gewonnen, auch in den Augen des Westens. Innenpolitisch hat die Kurdenpartei HDP bei der Parlamentswahl 13 Prozent eingefahren und die absolute Mehrheit der regierenden AKP verhindert.
...die doch jahrelang den Ausgleich mit den Kurden versuchte …
Das Ziel dieser Politik war allerdings die bedingungslose Entwaffnung der PKK. Zuvor hatte man dies erfolglos militärisch versucht. Das Argument Erdogans war: Wir haben die Türkei reformiert, den Minderheiten mehr Rechte eingeräumt, die könnt jetzt auch die Kurden nutzen, mehr braucht es nicht.

Gülistan Gürbey ist Politikwissenschaftlerin und Privatdozentin an der Freien Universität Berlin. Ihr Spezialgebiet ist Konfliktforschung, sie arbeitet seit langem zum Kurdistankonflikt
Gülistan Gürbey ist Politikwissenschaftlerin und Privatdozentin an der Freien Universität Berlin. Ihr Spezialgebiet ist Konfliktforschung, sie arbeitet seit langem zum Kurdistankonflikt

© privat

Was ist daran falsch? Will nicht auch die Mehrheit der Kurden einfach Frieden, kulturelle Rechte, etwas Wohlstand?
Das stimmt, die Mehrheit der Kurden lehnt Gewalt ab. Für sehr viele ist aber die PKK keine Terrororganistion, sondern sie sehen sie als Reaktion auf die lange massive Unterdrückung durch den türkischen Staat.
Dann müssten sie praktisch d’accord mit Erdogan sein: Frieden und Reformen…
Ganz so einfach ist es nicht mehr. Der Bedeutungszuwachs der Kurden, innertürkisch durch den Erfolg der HDP, außerhalb durch inzwischen zwei kurdische Autonomien – erst im Irak, jetzt auch in Syrien – bringt die kurdische Frage, die seit dem Ersten Weltkrieg ungelöst ist, erneut aufs Tapet. Man wird also über Formen der Autonomie verhandeln müssen, ohne die türkischen Grenzen anzutasten. Das aber will Ankara auf keinen Fall. Und seit dem Wahlerfolg der HDP im Juni und dem militärischen Erfolg der PKK-Schwester PYD in Syrien, die inzwischen Land mit Aussicht auf einen Meereszugang kontrolliert, ist die Regierung in Panik.
Und lässt im November neu wählen. Was, wenn sich das Juni-Ergebnis wiederholt?

Erdogan hat keine weiteren Karten im Ärmel, die militärische hat er gezogen. Gut möglich also, dass er eine Koalition eingeht. Rein rechtlich kann er auch ein drittes Mal wählen lassen, mit der Folge neuer Polarisierung. Wie auch immer, die Türkei wird instabiler. Ich sehe keine guten Zeiten anbrechen.

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