zum Hauptinhalt
Arctic Sea

© dpa

Angst vor Piraterie: Verschwundene "Arctic Sea" gibt Rätsel auf

Seit Ende Juli fehlt jedes Zeichen vom finnischen Frachtschiff "Arctic Sea". Wurde das Schiff in der Nordsee gekapert? Von Piraten? Russische Kriegsschiffe suchen nun nach ihm, der Fall bleibt ominös.

Das Schiff ist 17 Jahre alt, mit Holz beladen und in den sichersten Gewässern der Welt unterwegs – für Piraten gibt es lohnendere und einfachere Beute auf den Meeren zwischen Skandinavien und Nordafrika.

Und doch wurde die Arctic Sea womöglich von Seeräubern gekapert. Das vermutet zumindest die britische Küstenwache.

Der Frachter, der unter maltesischer Flagge fährt, gilt als verschollen. Wo der Frachter, der bei der Internationalen Marine Organisation unter der Nummer 8912792 registriert wurde, von der Firma namens Solchart Management in Helsinki bereedert wird und dem Malteser Unternehmen Arctic Sea gehört, abgeblieben ist, beschäftigt die Behörden von fünf Staaten.

Zeitungen in ganz Europa berichten von einer mutmaßlichen Entführung durch Piraten. Seeräuber auf der Nordsee? Das hat es seit einer Ewigkeit nicht mehr gegeben, sieht man einmal von den Kaperungen feindlicher Handelsschiffe in den Weltkriegen ab. "1. Piraten-Überfall auf der Ostsee“ titelte die Berliner Boulevardzeitung BZ. Störtebeker und andere Piraten des 14. und 15. Jahrhunderts lässt das Blatt außer Acht. Auch zwischen Kiel und Kopenhagen hat es Seeräuber gegeben, doch die Binnenmeere stehen heute unter Kontrolle technisch weitentwickelter Staaten wie Dänemark, Deutschland, Polen und Schweden.

Alles deutet daraufhin, dass im Fall “Arctic Sea“ keine Piraten ihre Finger im Spiel haben. Das Internationale Marine Büro (IMB) im malaysischen Kuala Lumpur, das weltweit Seeräuberangriffe registriert, zählt für das laufende Jahr in nördlichen Gewässern keinen einzigen Überfall. Die ständig aktualisierte Piratenkarte zeigt für die Nordsee ein ungetrübtes Blau. Vor Somalia hingegen reihen sich dutzende rote Punkte aneinander, ein jeder dokumentiert eine echte Seeräuberattacke. Auch in Südostasien und Südamerika registriert das IMB mehrere Fälle von Piraterie.

Vor allem in den Gewässern um Indonesien und die Straße von Malakka verschwanden in den vergangenen Jahren ganze Schiffe. Dort ist die Überwachung der Schifffahrt aber nicht so perfektioniert wie in Europa. Und in mehreren Fällen sollen korrupte Beamte und Piraten Hand in Hand gearbeitet haben. Nach der Kaperung strichen die Piraten den Schiffsnamen über, steuerten einen einsamen Hafen an und erhielten neue Fracht- und Schiffspapiere. Die Besatzung wurde ausgesetzt oder ermordet.

Für Ost- und Nordsee schließen Fachleute ein solches Verbrechen aus. Dennoch brodelt die Gerüchteküche. Von einer Meuterei ist zu lesen, von einer Geiselnahme, von einer Katastrophe. Bestätigt ist nichts.

Russische Behörden schließen eine Entführung nicht aus. Die Regierung in Moskau sorgt sich um das Leben der Seeleute. 15 Matrosen der Arctic Sea kommen aus Russland. Russische Kriegsschiffe sollen nun das verschwundene Schiff suchen. Präsident Dmitrij Medwedjew hat das Verteidigungsministerium nach Angaben russischer Nachrichtenagenturen angewiesen, alle notwendigen Maßnahmen zum Auffinden des Frachters zu ergreifen. Notfalls sollen Soldaten die Seeleute befreien.

Das Verteidigungsministerium teilte mit, die Suche habe bereits begonnen. Vier Schiffe der Schwarzmeerflotte befänden sich auf dem Weg in Richtung Ärmelkanal. Es werde jede erdenklich Suchtechnik eingesetzt, einschließlich satellitengestützter Überwachungssysteme.

Die Frauen der verschwundenen Seeleute hatten sich in einem offenen Brief an die russische Regierung gewandt und sie aufgefordert, eine umfassende Suchaktion unter Zuhilfenahme aller russischen Einheiten und Geheimdienste zu beginnen. Sie seien besorgt, weil sich seit Tagen keiner der Männer gemeldet habe und sie kein Besatzungsmitglied auf dem Handy erreichten.

Außerdem baten die Angehörigen die Regierung, westeuropäische Länder, vor deren Küsten die Arctic Sea verschwunden sein könnte, um Beteiligung an der Suche zu bitten. “Uns ist es wichtig, dass unsere Lieben ganz und unversehrt wieder nach Hause zurückkehren", heißt es in dem Schreiben.

Sorgen macht sich auch die britische Küstenwache. Denn große Schiffe, die einfach vom Radar und aus dem Funknetz verschwinden, sind eine Gefahr für die nationale Sicherheit.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September entdeckten die Geheimdienste, wie mangelhaft die Kontrolle der Seefahrt bis dahin war. Terroristen können Tanker und Frachter in tödliche Waffen verwandeln, und mit Gas oder Sprengstoff beladene Schiff in einem Hafen in die Luft jagen. Deswegen behagt es den Behörden gar nicht, wenn Schiffe plötzlich nicht auffindbar sind.

Um über die Schiffsbewegungen in küstennahen Gewässern ständig auf dem Laufenden zu sein, wurde das Automatische Identifikationssystem (AIS) entwickelt. Jedes Handelsschiff muss ein AIS an Bord haben, das über Funk ein Signal sendet, mit dem Behörden seinen Weg verfolgen können. Doch der Apparat kann von den Offizieren an Bord ausgestellt werden – erlaubt ist das nur in Ausnahmefällen, etwa in den Piratengewässern vor Somalia, damit Kriminelle nicht mit Hilfe des AIS potenzielle Beute orten können. Seit Ende Juli sendet die Arctic Sea kein Signal mehr. Warum das so ist, bleibt ein Rätsel.

Finnische Journalisten haben noch einige weitere Merkwürdigkeiten im Fall der Arctic Sea recherchiert. Ein Team der Zeitung Helsingin Sanomat berichtet, dass die Arctic Sea am 20. Juli den finnischen Hafen Pietarsaari verließ.

Drei Tage später soll die Fahrt brutal unterbrochen worden sein. Zehn Männer kamen an Bord, gaben sich als Polizisten aus und entpuppten sich als Piraten. Sie seien zwölf Stunden an Bord geblieben, hätten die Besatzung misshandelt, die Kommunikationseinrichtungen sowie Handys zerstört. Schließlich hätten sie das Schiff verlassen, ohne etwas mitzunehmen. Stundenlang hätten die Kriminellen an Bord etwas gesucht, berichten die finnischen Rechercheure, doch anscheinend nichts gefunden. Das klingt nicht nach einem Piratenüberfall.

Merkwürdig ist, dass der Kapitän der Arctic Sea anschließend keinen Hafen anlief, um Hilfe zu suchen und die Kommunikationstechnik reparieren zu lassen, sondern angeblich die Fahrt nach Algerien fortsetzte, wo das Holz entladen werden sollte.

“Kein Kapitän möchte ohne Funk fahren“, sagte ein erfahrener finnischer Kapitän den Journalisten. Er vermutet, dass die Besatzung lieber nicht in den Kontakt mit Polizisten aus Dänemark oder Schweden kommen wollte. Was hatte die Crew zu verbergen?

Fünf Tage nach dem Überfall verschwand das Schiff plötzlich. Am 29. Juli meldete es sich zum letzten Mal über das Automatische Identifikationssystem. Seitdem gab es keinen Kontakt mehr zu dem Schiff. Die Reederei schweigt.

Schiffseigner scheint eine Briefkastenfirma auf Malta zu sein. Die Firma heiße ebenfalls Arctic Sea, sie ist zumindest im Register eingetragen. Laut Helsingin Sanomat gehöre das Unternehmen Russen. Auf Nachfrage bei dem Unternehmen hieß es nur, man dürfe keine Antwort geben. Die Arctic Sea hat mehrfach den Namen gewechselt – seit 1996 bereits sechs Mal. Auch die Flagge wechselten die Eigner häufig. Sie fuhr bereits unter russischem, jamaikanischem und litauischem Hoheitszeichen.

Die Arctic Sea transportierte zuletzt Holz für den finnischen Konzern Stora Enso. 1,3 Millionen Euro sei die Ladung wert, gibt das Unternehmen an. Man habe keine Ahnung, wo sich das Holz nun befinde. Vor einer Woche hätte die Ladung in Algerien gelöscht werden sollen. Ob das Schiff dort jemals ankommen wird, ist ungewiss. 

Quelle: ZEIT ONLINE, 12.8.2009 - 19:34 Uhr

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false