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Es gibt derzeit kaum Bilder aus Libyen. Einige Amateurvideos, die im Internet veröffentlicht wurden, zeigten jedoch die anhaltenden Proteste. Hier die Zerstörung eines Monuments in Tobruk, im Osten des Landes.

© dpa

Anhaltende Proteste in Libyen: Al-Dschasira: 60 Tote in Tripolis

Mehrere Regierungsgebäude in der Hauptstadt Tripolis brennen, es gibt Gerüchte, Gaddafi habe das Land verlassen. Dessen Sohn warnt im Fernsehen vor einem Bürgerkrieg. Der libysche Justizminister ist bereits zurückgetreten.

In Libyen haben die Unruhen auf die Hauptstadt Tripolis übergegriffen und eine neue Dimension erreicht. In der Hauptstadt Tripolis stand einem Reuters-Reporter zufolge ein zentrales Regierungsgebäude in Flammen. “Ich kann die brennende Halle des Volkes sehen, die Feuerwehr ist vor Ort und versucht, das Feuer zu löschen“, berichtete der Reporter. Das Gebäude wird vom Parlament für seine Sitzungen in Tripolis genutzt. In einem Vorort von Tripolis steht nach dem Bericht eines Reuters-Reporters eine Polizeiwache in Flammen. Am Vormittag sahen Einwohner der libyschen Hauptstadt Rauch aus dem Gebäude des Innenministeriums aufsteigen. Auch mehrere Teehäuser seien von Aufständischen zerstört worden, sagte ein Augenzeuge. Die meisten Geschäfte blieben geschlossen. Vereinzelt gab es Kundgebungen, bei denen Anhänger von Staatschef Muammar al-Gaddafi Poster von ihm in die Luft hielten. Am Morgen griffen Hunderte Libyer bei ihren Protesten gegen die Regierung eine von einer südkoreanischen Firma betriebene Baustelle in Tripolis an. Mindestens vier Ausländer seien verletzt worden, teilte das südkoreanische Außenministerium mit.

Bei den anhaltenden Unruhen sollen nach Angaben aus Krankenhauskreisen in der Nacht und am Montag über 60 Menschen getötet worden sein. Das berichtete der arabische Sender Al-Dschasira. Auf dem Grünen Platz in Tripolis hätten sich wieder Tausende Demonstranten versammelt.

Der Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch zufolge stieg die Zahl der Toten bei den schwersten Unruhen in Gaddafis 40-jähriger Herrschaft auf mindestens 233. Die Führung des nordafrikanischen Landes kündigte an, die Revolte entschlossen zu bekämpfen.

Libyscher Justizminister zurückgetreten

Der libysche Justizminister Mustafa Abdel-Jalil trat aus Protest gegen den "exzessiven Einsatz von Gewalt gegen unbewaffnete Demonstranten" zurück. Das berichtete die libysche Zeitung "Quryna" am Montag. Die Zeitung hat enge Beziehungen zu Saif al-Islam, einem der Söhne von Revolutuionsführer Muammar al-Gaddafi. Insgesamt haben demnach zahlreiche Funktionäre und Diplomaten in Libyen ihren Rücktritt erklärt, nachdem bei schweren Zusammenstößen mit Sicherheitskräften mehrere hundert Menschen getötet worden waren.

Gerüchte, Gaddafi habe das Land verlassen

Nach Augenzeugenberichten soll das Gebäude des staatlichen Fernsehens geplündert worden sein. Die Lage in dem nordafrikanischen Land blieb unübersichtlich.

Nach Angaben von Einwohnern und einem AFP-Korrespondent hallten Schüsse und Krankenwagen-Sirenen durch die Viertel der Hauptstadt. Gleichzeitig aber waren Hup-Konzerte sowie laute Freudenschreie von Frauen zu hören: Gerüchte machten die Runde, Gaddafi habe nach 41 Jahren an der Macht das Land bereits verlassen - tatsächlich schweigt der Revolutionsführer seit Beginn der Proteste vor knapp einer Woche. Der Staatschef mied auch am Montag weiter die Öffentlichkeit.

Mehrere Volksstämme sollen sich den Gaddafi-Gegnern angeschlossen haben.

Gaddafis hatte zuvor in einer vom Fernsehen übertragenen Ansprache Reformen zugesagt. In einer in der Nacht machte Seif el Islam Gaddafi aber gleichzeitig deutlich, dass sein Vater nicht abdanken werde, und warnte vor einem Bürgerkrieg. Kurz zuvor hatten die Proteste erstmals die Hauptstadt Tripolis erreicht. Das libysche Parlament werde schon bald zusammentreten, um neue Strafgesetze sowie Gesetze für mehr Presse- und Bürgerfreiheiten zu verabschieden, kündigte Seif el Islam Gaddafi in seiner Rede an. Er rief die Bevölkerung dazu auf, ein „neues Libyen zu erschaffen“. Das nordafrikanische Land stehe „vor dem Scheideweg: Entweder verständigen wir uns auf Reformen, oder wir werden nicht nur den Tod von 84 Menschen beweinen, sondern von tausenden“. Den ausländischen Medien, die von bis zu 200 Opfer der gewaltsamen Einsätze der Sicherheitskräfte berichtet hatten, warf Gaddafis Sohn Übertreibung vor.

Gaddafis Sohn, der 2007 für ein Jahr den Reformflügel des Regimes leitete, machte deutlich, dass jeder Versuch einer „weiteren Facebook-Revolution“ wie in Tunesien oder Ägypten niedergeschlagen werde. Die Armee stehe hinter dem Revolutionsführer. Gleichzeitig räumte er jedoch Fehler der Armee im Umgang mit den Protesten ein. In el Islam Gaddafis Rede klang immer wieder eine gewisse Verzweiflung durch. So wurde deutlich, dass die Regierung die Kontrolle über die zweitgrößte Stadt Bengasi verloren hat.

Demonstranten hätten sich mehrerer Panzer und Waffen bemächtigt, sagte er. Er warf arabischen und afrikanischen Kräften vor, die Unruhen zu schüren, um die Einheit des Landes zu zerstören und ein islamistisches Regime zu errichten. Gleichzeitig drohte er allen ausländischen Ölfirmen mit dem Rauswurf aus Libyen.

Al-Dschasira wirft lybischem Geheimdienst Störung des Sendesignals vor

Der arabische Fernsehsender Al-Dschasira hat dem libyschen Geheimdienst vorgeworfen, sein Sendesignal zu stören. „Uns ist es mit Hilfe von Spezialfirmen gelungen, die Quelle der Störung ausfindig zu machen“, erklärte der Satellitensender mit Sitz in Doha im Emirat Katar am Montag. Es komme aus einem Gebäude südlich der Haupstadt Tripolis, das Sitz eines der libyschen Geheimdienste sei. Die Störung habe am 2. Februar begonnen, als Al-Dschasira angefangen habe, über die Proteste zu berichten. Laut dem Sender ist auch seine Website in Libyen nicht aufrufbar.

Angesichts der Berichte über Dutzende Tote hat das Auswärtige Amt eine Reisewarnung für das gesamte nordafrikanische Land ausgesprochen. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) forderte am Montag in Berlin alle Bundesbürger, die sich noch in Libyen aufhalten, auf, das Land zu verlassen.

Nach Schätzungen leben etwa 500 Bundesbürger in dem Land, darunter auch viele Deutsche mit doppelter Staatsbürgerschaft. Als Touristen sind dort vermutlich nur wenige Bundesbürger unterwegs. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) hatte das Land erst im vergangenen November besucht und dabei auch Machthaber Muammar al-Gaddafi getroffen. Damals fand in Tripolis ein EU/Afrika-Gipfel statt.

Merkel verurteilt Gewalt in Libyen "aufs Schärfste"

Die Bundesregierung verurteilte die Gewalt in Libyen am Montag deutlich. „Das alles ist aufs Schärfste zu verurteilen“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert mit Blick auf Berichte, wonach bei den Protesten Scharfschützen gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt worden seien. Die Bundesregierung und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) seien über die Vorgänge „bestürzt“. Deutschland appelliere ganz klar an die libyschen Machthaber: „Gewähren Sie Versammlungsfreiheit allen, die gewaltlos demonstrieren wollen und suchen Sie den Dialog mit der Bevölkerung“, sagte Seibert. Auch der britische Premierminister David Cameron nennt das Vorgehen der libyschen Führung bösartig und nicht hinnehmbar. Er besuchte als erster hochrangiger Staatsgast seit dem Machtwechsel das Libyen benachbarte Ägypten.

Auch die EU verurteilte die Gewalt gegen Demonstranten in Libyen. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Zivilbevölkerung müsse sofort beendet werden, erklärte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton am späten Sonntagabend nach Beratungen mit den 27 EU-Außenministern in Brüssel. Auch die staatliche Blockade des Internets und des Mobilfunknetzes müsse aufgehoben und den Medien eine freie Berichterstattung ermöglicht werden.

EU berät über weiteres Vorgehen

Die EU-Außenminister berieten am Montag in Brüssel über Lage in den arabischen Ländern nach den Umstürzen in Tunesien und Ägypten. Die EU will den Übergang zur Demokratie in den beiden Ländern durch Finanzhilfen und Beratung etwa bei der Organisation freier Wahlen unterstützen.

Die libysche Regierung hatte gegenüber der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft damit gedroht, die Kooperation bei der Abwehr illegaler Zuwanderer nach Europa zu beenden, wenn die EU weiterhin die Demonstranten unterstützen sollte. “Das ist eine unglaubliche Entgleisung, die Europäische Union darf sich hier nicht erpressen lassen“, sagte Außen-Staatsminister Werner Hoyer in Brüssel. Die EU hat Libyen bereits 50 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um Flüchtlinge aus Afrika in Auffanglagern an der Küste vom Übersetzen nach Europa abzuhalten. Tausende von Tunesiern hatten sich in der vergangenen Woche auf die italienische Insel Lampedusa abgesetzt. Die EU unterstützt Italien bei der Sicherung der Grenze inzwischen mit Experten der Grenzschutzagentur Frontex. Die Außenminister wollten am Nachmittag auch darüber beraten, wie sich die Nachbarschaftspolitik der EU gegenüber den südlichen Nachbarn als Konsequenz aus der Krise ändern muss. Deutschland fordert, Finanzhilfen stärker von Fortschritten bei demokratischen Reformen abhängig zu machen und bei Rückschlägen auch Sanktionen in Betracht zu ziehen.

Außenminister Guido Westerwelle hatte in einem Schreiben an Ashton außerdem gefordert, die EU müsse den Handel mit den Ländern weiter liberalisieren. “Wir müssen unsere Märkte öffnen, auch das wird eine Frage der Glaubwürdigkeit der Europäischen Union werden“, sagte Hoyer. Der Handel ist schon weitgehend liberalisiert, doch gibt es auf Drängen der südeuropäischen EU-Staaten noch Beschränkungen bei Agrar- und Textilimporten aus der Region. Frankreich, Spanien, Griechenland, Slowenien, Malta und Zypern verlangten unterdessen eine Aufstockung der Fördermittel der EU für die Region. Im Zeitraum von 2007 bis 2013 unterstützt die EU die wirtschaftliche Entwicklung und politische Reformen bei ihren südlichen Nachbarn mit rund acht Milliarden Euro.

Wegen der blutigen Proteste sind hunderte in Libyen lebende Tunesier aus dem Land geflohen und in ihre Heimat zurückgekehrt. Die Flüchtlinge hätten von einem wahren „Gemetzel“ berichtet, sagte der tunesische Gewerkschafter Houcine Betaieb am Sonntagabend der Nachrichtenagentur AFP. Sie hätten um ihre Sicherheit gebangt und seien daher über den Grenzposten Ras-Jdir nach Tunesien zurückgekehrt. Am Grenzübergang hätte es wegen des Andrangs einen großen Stau gegeben.

Zusammenhalt des Regimes bröckelt

Unterdessen beginnt der Zusammenhalt innerhalb des Regimes zu bröckeln. Der ständige Vertreter Libyens bei der Arabischen Liga, Abdel Moneim el Honi, legte am Sonntag seinen Posten nieder und schloss sich der „Revolution“ in seinem Land an. Ihm folgte am Montag ein ranghoher Diplomat in China: Vor laufender Kamera des Senders Al-Dschasira rief Hussein Sadiq el Musrati das gesamte diplomatische Korps auf, sich seinem Rücktritt anzuschließen. Der Diplomat berichtete von heftigen Kämpfen zwischen Gaddafis Söhnen, doch ließ sich diese Information laut Al-Dschasira zunächst nicht bestätigen.

Die USA, die EU und die Arabische Liga riefen die Führung in Tripolis auf, die Gewalt gegen die Demonstranten zu beenden. Stattdessen solle sie in einen Dialog mit der Opposition treten.

Der britische Ölkonzern BP hatte am Vorabend seine Geschäfte vor Ort eingestellt. Betroffen seien Vorbereitungsarbeiten für die Gas- und Ölproduktion im Westen des Landes, sagte ein Firmensprecher am Montag. Bislang produziert BP in dem nordafrikanischen Land noch kein Öl oder Gas, bereitet sich aber auf eine Förderung in mehreren Jahren vor. Die BASF-Tochter Winterhall kündigt an, etwa 130 Personen aus Libyen nach Deutschland auszufliegen. Die Öl-Produktion soll heruntergefahren werden.

Auch Siemens zog Mitarbeiter aus Libyen zurück, die österreichische OMV verringerte ihr Personal auf das Nötigste. Auch der Energiekonzern RWE hat wegen der angespannten Lage in Libyen Mitarbeiter und Angehörige aus dem Land ausgeflogen. Zwei Gruppen seien am Wochenende zurückgekehrt, nachdem der Versorger die Abreise empfohlen habe, sagte eine Sprecherin der Öl- und Gasfördertochter RWE Dea. Der Ölpreis stieg aufgrund der Unruhen am Montag auf ein neues Jahreshoch, von mehr als 104 Dollar je Barrel. (AFP/rtr/dpa/dapd)

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