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Politik: „Ankaras Arbeit ist beeindruckend“ EU-Chefdiplomat Javier Solana über Europa und Erdogan, Fehler im Nahen Osten – und eine unsanfte Landung

Herr Solana, erinnern Sie sich an die Nacht vom 10. auf den 11.

Herr Solana, erinnern Sie sich an die Nacht vom 10. auf den 11. Dezember 1999?

Ja, sehr gut. Ich kann Ihnen viele Details aus dieser Nacht erzählen.

Sie flogen damals im Auftrag der Europäischen Union von Helsinki nach Ankara, um den damaligen türkischen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit davon zu überzeugen, auf ein Angebot der EU einzugehen – und die Türkei zum EUBeitrittskandidaten zu machen.

Es war eine sehr unruhige Nacht…

…Sie haben damals wenig Schlaf bekommen…

…Ja, und ich hatte auch einen Unfall. Frankreichs Präsident Jacques Chirac hatte mir freundlicherweise sein Flugzeug angeboten, damit ich die Mission überhaupt erfüllen und noch spätabends nach Ankara aufbrechen konnte. Als wir landeten, zerbrach die gläserne Schutzscheibe vorne im Cockpit. Deshalb musste das Flugzeug ausgetauscht werden. Aber die Gespräche mit dem türkischen Präsidenten und Regierungschef waren erfolgreich.

Hätten Sie damals gedacht, dass die EU fünf Jahre später beschließt, Beitrittsgespräche mit der Türkei aufzunehmen?

In der Zwischenzeit haben sich die Dinge überall mit großer Geschwindigkeit bewegt. Das gilt für die Europäische Union, aber auch für die Türkei. Die Regierung des Premierministers Erdogan hat sehr beeindruckende Arbeit geleistet.

Wann werden die Beitrittsgespräche zwischen der EU und der Türkei beginnen?

Das entscheiden die Staats- und Regierungschefs der EU im Dezember.

Und wie lange werden die Gespräche dauern?

Das ist sehr schwer vorherzusagen. Auch die Türkei hat anerkannt, dass sie vor einer sehr schwierigen Aufgabe steht. Unsere türkischen Freunde sind sehr pragmatisch – sie wissen, dass es ein Fehler wäre, die Verhandlungen beschleunigen zu wollen. Der Moment der Wahrheit – also der Abschluss der Gespräche – kommt erst dann, wenn beide Seiten wirklich dafür bereit sind. Das gilt für die Türkei und für die Europäische Union. Wenn eine Seite nicht bereit wäre, würden alle am Ende darunter leiden.

Wo liegen die größten Hindernisse für einen Beitritt der Türkei?

Ich würde nicht von Hindernissen sprechen, sondern von Herausforderungen. Die Umsetzung von Gesetzen in der Türkei ist zum Beispiel noch verbesserungsfähig. Aber wie gesagt: Es hat keinen Sinn für die Türkei, einen Prozess beschleunigen zu wollen, der noch nicht ausgereift ist. Solange zum Beispiel die türkische Wirtschaft noch nicht wettbewerbsfähig ist, wäre Ankara auch nicht gut beraten, der EU beizutreten.

Würde ein Beitritt der Türkei das Ende der Vertiefung der EU bedeuten?

Nein, das glaube ich nicht. Die Türkei ist ein sehr wichtiger Akteur von strategischer Bedeutung in einem Teil der Welt, der unsere Nachbarschaft darstellt. Wenn die Türkei mit uns, mit der Europäischen Union kooperiert, dann wäre das auch ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung dieser Region. Stellen Sie sich einen Moment vor, dass wir der Türkei „Nein“ sagen: Dann hätte ein wichtiges islamisches Land in der Nahost-Region mit einer gemäßigten Regierung plötzlich keinen Anker mehr. Deshalb hat die EU-Kommission auch in ihrem ausgewogenen Bericht die Aufnahme von Beitrittsgesprächen empfohlen, und ich hoffe, dass die Staats- und Regierungschefs die Empfehlung im Dezember annehmen.

Wie gefährdet der gesamte Nahe Osten ist, hat sich in dieser Woche bei den Anschlägen in ägyptischen Ferienorten gezeigt. Welche Auswirkungen könnten die Anschläge auf den Nahost-Friedensprozess haben?

Die letzten Wochen haben keinen Anlass zum Optimismus gegeben. Die Spirale der Gewalt – auch im Gaza-Streifen – muss ein Ende finden. Es liegen genügend Pläne auf dem Tisch, darunter der Plan des israelischen Premierministers Ariel Scharon über einen Abzug aus dem Gaza-Streifen. Da sollten wir doch in der Lage sein, den Friedensprozess voranzubringen. Auf beiden Seiten sind viele unschuldige Menschen ums Leben gekommen.

Dov Weissglass, der frühere Kabinettschef von Ariel Scharon, hat davon gesprochen, dass der Friedensprozess auf unbestimmte Zeit auf Eis gelegt werden könnte. Damit war auch die Gründung eines Palästinenserstaates gemeint.

Die Äußerung von Weissglass war ein Fehler und hat die Lage noch sehr viel komplizierter gemacht. Alle Seiten verfolgen doch das Ziel eines Palästinenser-Staates – die Europäer, die USA, Russland, der UN-Sicherheitsrat und die gesamte internationale Gemeinschaft.

Gibt es eine Möglichkeit, den Urhebern terroristischer Gewalt in der arabischen Welt den Nährboden zu entziehen?

Wir müssen verstehen, dass Gewalttäter eine Minderheit darstellen. Die große Mehrheit der Bevölkerungen in der arabischen Welt unterstützt zwar den Terror nicht. Aber dennoch findet die Minderheit der Terroristen ideelle Unterstützung bei den Bevölkerungen. Deshalb müssen wir nicht nur die Terroristen isolieren. Wir müssen gleichzeitig auch den anderen Menschen eine Hoffnung geben. Wir müssen darauf setzen, dass die Modernisierungskräfte in der arabischen Welt am Ende mehr Überzeugungskraft haben als die Vertreter des Terrors.

Afghanistan ist gerade der Demokratie einen großen Schritt näher gekommen – am Samstag haben dort Präsidentschaftswahlen stattgefunden. Ist damit auch ein Ende des Engagements der internationalen Schutztruppe Isaf absehbar?

Die Wahlen sind kein Grund, über einen Abzug der Isaf-Truppe nachzudenken. Das wäre ein Fehler. Es bleibt noch sehr viel Arbeit in Afghanistan zu tun. Die Öffentlichkeit in Europa muss verstehen, dass ein solcher Prozess des Neuaufbaus Zeit braucht.

Sollte also die Zahl der Wiederaufbau-Teams in Afghanistan, an denen auch die Bundeswehr beteiligt ist, erhöht werden?

Die Isaf-Schutztruppe leistet sehr gute Arbeit. Ich möchte mich auch für die Zusammenarbeit Deutschlands bedanken. Ich denke, dass es auch sinnvoll wäre, wenn man weitere Wiederaufbau-Teams außerhalb von Kabul einrichten würde.

Sie sind nicht der Einzige, der mehr Wiederaufbau-Teams für Afghanistan verlangt. Aber sind die Armeen der Nato-Staaten nicht längst an die Grenze ihrer Belastbarkeit gelangt?

Wir müssen realistisch bleiben. Um ein Beispiel zu nennen: Zu den Krisenregionen in Afrika, in denen wir helfen wollen, gehört die Provinz Darfur in Sudan. Wir sind in diesem Fall sehr froh darüber, dass die Afrikanische Union über Kapazitäten verfügt, die es ihr erlauben, hier langsam Verantwortung zu übernehmen. Wir werden helfen, sobald unser Know-how gefragt wird. So können wir mit den Truppen der Afrikanischen Union unsere Erkenntnisse aus der militärischen Aufklärung teilen oder bei der Logistik helfen.

Also soll Europa in Afrika Know-how zur Verfügung stellen, aber keine Truppen?

Keine andere Region der Welt hat in Sudan so viel Hilfe geleistet wie Europa. Die humanitäre Hilfe kam dort fast ausschließlich von den Europäern, wir haben die afrikanischen Staaten vor der Beschlussfassung über die UN-Resolution über deren Umsetzung beraten. Der Vize–Präsident der Waffenstillstandskommission für die Darfur-Region ist ein Europäer, und die EU stellt auch militärische Beobachter.

Sie sind als erster EU-Außenminister nominiert. Sie sollen Ihr Amt antreten, sobald die europäische Verfassung in Kraft getreten ist. Das könnte 2007 der Fall sein. Das Amt des EU–Außenministers wird über viel Macht verfügen. Haben Sie mit dem künftigen Präsidenten der EU-Kommission, José Manuel Barroso, schon über die Aufgabenteilung gesprochen?

Ich habe mit dem künftigen Kommissionspräsidenten schon mehrere Gespräche geführt. Aber es wäre unhöflich, öffentlich darüber zu reden, solange José Barroso noch nicht im Amt ist.

Wie groß soll der diplomatische Dienst sein, über den der künftige EU-Außenminister Solana verfügen will? Mehrere hundert Personen oder mehrere tausend?

Die Frage des diplomatischen Dienstes gehört wahrscheinlich zu den interessantesten Punkten der neuen EU-Verfassung. Sobald Kommissionspräsident Barroso am 1. November im Amt ist, werde ich in enger Zusammenarbeit mit ihm beginnen, an einer „sanften Landung“ für den künftigen diplomatischen Dienst zu arbeiten. Die Mitgliedstaaten der EU haben ein entscheidendes Mitspracherecht in der Frage, wie das Amt des EU-Außenministers ausgestaltet wird. Wir haben mindestens ein Jahr Zeit, uns darüber den Kopf zu zerbrechen.

– Das Gespräch führten Christoph von Marschall und Albrecht Meier. Das Foto machte Mike Wolff.

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